So sehr die Istanbullular (Bewohner Istanbuls) ihre Stadt auch lieben, ihre Schönheit besingen oder ihren Namen voller Stolz auf T-Shirts tragen: Spätestens am Wochenende versuchen sie zu fliehen, es zieht sie in die Parks, auf die adalar (Prinzeninseln) oder ans Schwarze Meer. Für das obligatorische ızgara (Grillen) hält auch schon mal ein Autobahngrünstreifen her – Hauptsache Natur.
Einigen reichen diese kleinen grünen Nischen längst nicht mehr und, wie überall auf der Welt in urbanen Zentren, suchen sie nach mehr Natur und weniger Stadt in ihrem Leben. Und so war eine meiner erster WhatsApp-Nachrichten von meinem neuen türkischen Mitbewohner folgende: Ama Çarşamba günü ağaç dikmeye gidiyorum. (Aber am Mittwoch pflanze ich Bäume). Ah ja. Mein Kopf brummte: Ich hatte mein Türkisch in den letzten Jahren arg vernachlässigt, aber so viel bekam ich dann doch noch zusammen. Oder etwa nicht? Der pflanzt nicht wirklich Bäume? Und vor allem wo? In dieser Stadt? Ich übersetzte anhand der verschiedensten Wörterbücher. Der Satz blieb: Ama Çarşamba günü ağaç dikmeye gidiyorum. Und so erschien am Abend meiner Ankunft in Istanbul zur Begrüßung mein völlig verschlammter neuer Mitbewohner Cemal in der Wohnung zur Begrüßung – er hatte tatsächlich Bäume gepflanzt.
Jetzt sitzen wir in einem Garten, in einer fast unberührten Landschaft, ein kleines Dorf im Rücken, mit Ausblick auf einen See. Im Hintergrund hört man den obligatorischen Ruf des Muezzins. Der Kontrast zu Istanbul könnte nicht größer sein. Mit drei weiteren Freunden hatten Cemal und Ersin, ein guter Freund von ihm, Anfang des letzten Jahres bahçeler (Gärten) gekauft. Wobei die deutsche Definition dieses Wortes angepasst werden muss: es sind riesige Wiesen. Flächen, auf denen außer ein paar Obstbäumen bislang nur Ideen und Träume wachsen. Von diesen aber dafür umso mehr. Von ökologischer Landwirtschaft über ein Theaterfestival bis hin zu kleinen Sommerhäusern.
Die Suche der bahçeler war ein langer Prozess. Der Ort durfte nicht zu weit von Istanbul entfernt sein, da alle Freunde freiberuflich in der Stadt arbeiten. Möglichst unberührte Natur und nah am Meer. Sieben bis acht Monate lang wurden immer wieder verschiedenste Orte im näheren Umfeld von Istanbul besucht und mit Bauern gesprochen. „Ich hatte dadurch die Möglichkeit, die Natur in allen Jahreszeiten kennenzulernen”, meint Cemal. Den Wunsch nach einem bahçe hätte er schon länger gehabt, aber keine konkreten Pläne verfolgt. Dies änderte sich, als Ersin mit greifbaren Ideen kam. Ein Ort, mehrere Gärten und eine kleine Community aus Freunden sollten aufgebaut werden. So wurden aus fernen Träumen konkrete Ziele, laut Cemal, ohne viel darüber nachzudenken. „Wir teilen uns die Arbeit, so ist es leichter”, erzählt Ersin. „Wenn Cemal in den Urlaub fährt, schaue ich nach dem Garten und umgekehrt.“
Und für diesen Wunsch nehmen sie einiges in Kauf. Mit viel Glück sind es 50 Minuten Fahrt von Kadıköy, wo die meisten wohnen, bis zum bahçe. Mit viel Verkehr werden daraus oftmals zwei bis drei Stunden. Mit ganz viel Pech bis zu fünf. All dies für nur einen Tag, manchmal zwei Tage in der Natur. Der Weg führt sie bis an die Rӓnder des Molochs Istanbul, entlang am Meer mit den schweren Industrie- und Hafenanlagen hinein ins Grüne, wo die Abstӓnde zwischen den Dörfern immer größer werden und in den meisten von ihnen nicht mal ein bakkal (Kiosk) zu finden ist. So kommt man in diesem kleinen Dorf mit seinen Schotterwegen an.
Fünf neue Menschen wirken fast wie eine kleine Invasion in dem verschlafenen und nur etwa 30 Einwohner zӓhlenden Ort. Wie ein zweites alternatives Dorf. Neben der körperlichen Arbeit lag genau in diesem Prozess die größte Herausforderung für alle: Vertrauen aufbauen. Zwei Lebenswelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, prallen durch die neu gekauften Gӓrten aufeinander. Denn obwohl man die gleiche Sprache spricht, ist man sich fremd. Hier die bunte Istanbul-Gruppe, urban geprӓgt und internationalisiert und dort die traditionell lebende, einander seit Jahrzehnten vertraute Dorfgemeinschaft. Politisch und kulturell in dieser ohnehin tief gespaltenen Gesellschaft auf einen Nenner zu kommen, war unmöglich. Stattdessen fand sich ein dritter Weg zwischen Auseinandersetzung und Abwendung: Sensibilitӓt. Dies verlangt beiden Seiten viel ab. Statt des politischen Schlagabtausches und der fast schon obligatorischen Grabenkӓmpfe spricht man über die gemeinsamen Themen, die vielfach vorhanden sind: Pflanzen, Ernte, Wetter und Familie. Wer wann auch immer ins Dorf fӓhrt, grüßt alle und jeden. Man bleibt stehen und hӓlt ein Schwӓtzchen. Die einen fragen nach Istanbul, die anderen erhalten wertvolle Tipps für die eigenen Gӓrten von den Alteingesessenen. Beide Seiten passen sich an. Im Dorf kleiden die Freunde sich anders, benutzen die traditionellen Grußformen und verzichten auf zu engen körperlichen Kontakt untereinander. „Wenn du das nicht auf die Reihe kriegst, brauchst du nicht ins Dorf gehen”, meint Ersin „Das gehört dazu.” Und die Dorfbewohner, welche die stetig wechselnde und landschaftlich unerfahrene Truppe zu Beginn noch misstrauisch beӓugten, gehen offen und freundlich auf alle Neuankömmlinge zu, teilen Obst und Wissen. Man kennt sich und hat sich gefunden.
Dieser Ort erscheint besonders schön mit dem See, einer fast unberührten Landschaft und den verstreuten Dörfern. Vor allem aber auch mit den Menschen, mit denen sie sich angefreundet haben. Paradiesisch wirkt die in den Gärten wachsende Nane (Minze), ihr Geruch hӓngt überall in der Luft. Es gibt unzӓhlige Wildkrӓuter und einfach mal die absolute Stille. Diese findet man lӓngst nicht mehr in Istanbul, falls es sie dort jemals gab. Alle fünf wollen dies nutzen, die Einstellung “try and error” hilft dabei immens. Einfach mal machen. Denn keiner hat jemals auf dem Dorf gelebt. „Als meine Familie anfangs nach Istanbul kam, lebte sie dorfӓhnlich. Mit einem Garten und sogar Hühnern. Doch auch dieser Ort ist mittlerweile zu urban“, erzӓhlt Cemal. „Das Internet hilft sehr, einfach ausprobieren, einfach machen und wenn es nicht klappt, hat man fürs nӓchste Mal gelernt“, scherzt Ersin. “Learning by doing” – alles wird sich mühsam selbst beigebracht. „Ich wollte als nӓchsten Schritt ein kleines Haus bauen, um komfortabel zwei bis drei Nӓchte hier bleiben zu können”, sagt Cemal, wӓhrend wir beim Picknick sitzen. Es sollten diesen Sommer eigentlich noch viele kleine Schritte folgen, eine Art Testphase für das zukünftige Leben hier. Lernen, mit der Natur und im Dorf zu leben.
Doch als ein sechster Freund einen Garten kaufen wollte, verӓnderte sich alles. Der Preis sollte um ein Vielfaches höher sein als bei den anderen Kӓufen. Der Wert sei gestiegen, da eine Straße kommen würde. Was zu Beginn wie ein Scherz klang, ist mittlerweile bitterer Ernst. Für die dritte Bosporus-Brücke soll eine Anbindung gebaut werden. Und diese wird vermutlich direkt auf der gegenüberliegenden Hügelkette verlaufen.
Eine wahrscheinlich achtspurige Straße. Die Stadt, vor welcher sie flohen, ist ihnen gefolgt. Innerhalb eines Jahres sollen die Bauarbeiten anfangen und abgeschlossen sein. Leider klingt dies realistisch. Große Bauprojekte werden durch umfangreiche Ressourcenbereitstellung durch die Regierung schnell vorangetrieben. Projektleichen wie Stuttgart 21 oder der Berliner Flughafen finden sich in der Türkei nicht. Aber auch hier gilt: Etwas Genaues weiß man nicht. Es finden sich keine Pläne im Internet, keine Informationen für die Anwohner*innen. Vollendete Tatsachen hier oder mit viel Glück fünf Kilometer weiter. Daran glauben Cemal und Ersin jedoch nicht. Hier würde es strategisch gesehen Sinn machen, meinen sie. Große Teile des Gebiets gehören dem Staat, es ist somit billig und hier müssten nur ein paar Bäume gefällt werden. Und dies hat ja eine lange Tradition bei türkischen Bauprojekten. Cemal und Ersin wirken desillusioniert, fassungslos und frustriert. „Sie haben es zerstört“, beklagt Ersin. Einige Dorfbewohner*innen befürchten Ähnliches. „Aber wir wollen nicht weiter in Istanbul leben, ich hasse es mittlerweile in der Stadt” Und da ist sie wieder, diese trotzige Haltung gegenüber der Welt, die ich oft bewundere: „Cemal und ich schauen uns schon nach anderen Möglichkeiten um“ meint er lächelnd. Die neue Suche nach einem neuen bahçe hat längst begonnen.
Istanbul ist das Herz der Türkei – ein sehr großes Herz mittlerweile. Doch sie wird noch größer, wahrscheinlich wird sie zu einer der klassischen “Megacities” heranwachsen. 16 Millionen Einwohner*innen sind es bislang. Und die offiziellen Stellen befürworten einen weiteren Zuzug. In zehn Jahren wird Istanbul vielleicht auch hier angekommen sein. Die Folgen dieses Wachstums haben Ersin und Cemal lӓngst für sich selbst erkannt: „Man wird krank in der Stadt: psychisch und körperlich!” Ganz anders sehen viele alteingesessene Dorfbewohner*innen die Situation. Ihre Kinder sind größtenteils schon wegen der Arbeit und Ausbildung in Istanbul, jetzt komme die Stadt zu ihnen. Dies werde Arbeitsplätze und ein leichteres Leben mit sich bringen. Die gegenseitige Migration ist auch hier in vollem Gange.
Ein schwacher Trost für die Istanbullular: Während in Deutschland bei großen Infrastrukturprojekten meist die Bodenpreise fallen, werden die Fünf wahrscheinlich mehr Geld beim Verkauf erhalten, als sie ausgegeben haben. Sie werden weiterziehen mit ihren Ideen und Träumen – von einem anderen Leben in der Türkei.
Bana zaman ayırıp güvendikleri ve samimiyetleri için Cemal ve Ersin`e çok teşekkür ederim!
Text, Bilder: Rebecca Meier
Redaktion: Marie Hartlieb