Peyami Safa (1899 -1961) bekam als Sohn des bekannten osmanischen Schriftstellers Ismail Safa das Schreiben quasi in die Wiege gelegt. Der frühe Tod seines Vaters, eine schwere Knochenerkrankung und harte Lebensumstände setzten ihm in seiner Kindheit schwer zu. Seine komplizierte Kindheit und langen Krankheitsjahre führten ihn früh in die Arme der Philosophie, Geschichte und Soziologie. Geboren in einer Zeit großer politischer und sozio-kultureller Umbrüche reflektiert er in seinen Büchern durch seine Protagonist*innen die Konflikte und brennenden Fragen seiner Zeit.
Im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere als Romancier und Journalist zeigen sich Änderungen in seiner politischen Haltung. War Safa zu Beginn ein großer Fan Atatürks und dessen Reformen, lehnt er sie später immer mehr ab, da er befürchtet, dass sich das türkische Volk dadurch allzu sehr von seinen Traditionen und dem Islam abwende und sich zu stark europäisiere. Ist er anfangs Materialist, verspürt er im Laufe der Jahre eine immer größere Neigung zum Mystizismus. Die Veränderungen gehen so weit, dass es sich zuletzt vom liberalen Panturkisten, der alle Turkvölker wiedervereinen möchte, zum national-konservativen, strenggläubigen Moslem entwickelt.
“Orient” oder “Okzident”: Wo gehören wir hin?
Peyami Safas persönliche und literarische Auseinandersetzung mit den verschiedenen politischen Strömungen der jungen Republik zeigen den Konflikt junger Menschen seiner Zeit auf: So sind auch die zentralen Themen seiner Werke der Gegensatz zwischen „Orient“ und „Okzident“ und die Rolle der Türkei zwischen beiden. Dieser auch heute noch aktuelle Grundkonflikt der türkischen Identität wird in seinen Büchern oft in ähnlichen Rollenkonflikten und Personenkonstellationen thematisiert. Meist werben zwei Männer um dieselbe Frau. Einer von ihnen wird als „Orientale“ dargestellt: Er neigt zum Mystizismus, hat hohe moralische Ansprüche, ist treu und besitzt die „einfache anatolische Seele“. Der von Safa skizzierte Gegenspieler ist „Europäer“: Sein Verhalten ist oberflächlich und aufgesetzt, unsittlich und egoistisch. In zwischengeschlechtlichen Beziehungen und Romanzen dominieren für ihn sexuelle Interessen und Hedonismus.
Die junge Frau dagegen entstammt meist einfachen und konservativen Verhältnissen. Sie freut sich über die Werbung zweier Männer. Findet sie in dem „Europäer“ den Glanz und die Sorgenlosigkeit des Großstadtlebens, reizt sie auch die Treue und Zuverlässigkeit und Herzlichkeit des „Orientalen“. Ihre innere Zerrissenheit und ihr Entscheidungsprozess werden von Safa äußerst poetisch thematisiert. Durch diese Beschreibungen finden Leser*innen Zugang zu einem Konflikt, der in seiner Dringlichkeit bis heute viele türkische Intellektuelle vor die Frage stellt: Sind wir „Orientalen“ oder „Europäer“? Was ist besser für uns: der „Osten“ oder der „Westen“?
Yalnızız – Wir sind einsam
Auch in seinem Roman Yalnızız („Wir sind einsam“) thematisiert er den Ost-West-Konflikt und zeigt anhand Selmins Familie die Risse, die diese zentrale Frage in türkische Familien bringt, auf. Die junge und attraktive Selmin lebt mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und ihren Onkeln in einer Villa. Der früh verstorbene Vater hinterließ der Familie ein großes Vermögen, weshalb die Familie ein sorgenfreies Leben führen kann. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Selmin ihrer Mutter mitteilt, dass sie unverheiratet schwanger sei. Ihre Mutter, Mefharet, ist zwar liberal-kemalistisch orientiert, aber die voreheliche Schwangerschaft ihrer Tochter lässt sie Ohnmachtsanfälle und Panikattacken erleiden. Diese steigern sich in ihrer Intensität, da Selmin den Namen des Vaters nicht preisgibt. Mefharets Ängste gehen so weit, dass sie ihren Bruder beschuldigt, ihre Tochter geschwängert zu haben. Die Beziehung von Mutter und Tochter wird durch diese ungewollte Schwangerschaft stark belastet. Safa beschreibt äußerst empathisch die Zweifel, Wut und teilweise den Hass, den die Mutter ihrer Tochter gegenüber entwickelt.
Mutter und pubertierende Tochter – eine schwierige Beziehung
Safa nutzt Elemente des psychologischen Romans, um dem Leser die Krise der Protagonisten näherzubringen. So spricht die Mutter, Mefharet, zu ihrer Tochter:
„Görüyorsun ne haldeyim. Düşün bir kere: Anayım ben, ana. Elin bir gencini bana feda etmişsin, çok mu? Ben senin saadetini düşündümde onu istemedim. Seni sevdiǧine inanmıyordum. Sen de sevmiyordun onu, söylediler, biliyorum, alakanı kesmişsin, memnun oldum. Benim suçum neydi öyleyse? Neden bana düşman oldun? Neden bana inat olsun diye ailenin namusunu bir paralık edecek işler yaptın? Kiminle? Bari onu söyle de meraktan kurtulayım. Sonra icabına bakarız. Kimse duymaz.“ („ Du siehst, in welchem Zustand ich bin. Denk darüber nach: Ich bin eine Mutter, Mutter! Was ist schon dabei, wenn du einen fremden jungen Mann für mich aufgibst? Ich habe dein Glück vor Augen und möchte ihn deshalb nicht. Ich glaubte nicht, dass er dich liebt. Auch du liebtest ihn nicht, das sagten sie mir, ich weiß es, du sollst den Kontakt abgebrochen haben, das freut mich. Was war also meine Schuld? Wieso wurdest du zu meiner Feindin? Wieso hast du Dinge getan, die unsere Familienehre ruinieren? Mit wem? Sag mir doch wenigstens das, damit ich diese Neugier loswerde. Wir schauen dann nach einer Lösung. Niemand wird es erfahren!“)
Doch die junge Frau hat andere Absichten, sie möchte als eigenständig denkende und handelnde Frau wahrgenommen werden. Sie möchte sich von ihrer Mutter und deren Moralvorstellungen emanzipieren und scheut keine Provokation:
„İtalya`ya gideceǧim; yahut Viyana`ya…Belki de Paris`e. Karar vermedim daha. Fakat gideceǧim. Orada doǧuracaǧım. Tarlabaşındaki dükkana müșteri buldum, satacaǧım. Bir kaç bin liram var zaten. Satmasam da olur. Kararı verdim.“
„Artık benim de bir șahsiyetim var, dedi. Nișanlımı sevmek veya kovmak yalnız benim hakkımdır. Sen karıșamazsın. Onunla ister evlenirim, ister evlenmem.“ („Ich werde nach Italien reisen. Oder nach Wien. Vielleicht nach Paris. Ich habe mich noch nicht entschieden. Dort werde ich gebären. Für den Laden in Tarlabașı habe ich einen Kunden gefunden. Ich werde ihn verkaufen. Ich habe ja sowieso noch einige Tausend Lira. Es ging auch, wenn ich ihn nicht verkaufe. Ich habe mich entschieden.“
„Auch ich habe nun eine Persönlichkeit“, sagte sie. „Ob ich meinen Verlobten liebe oder fortjage, das ist allein meine Entscheidung. Du kannst Dich da nicht einmischen. Wenn ich will, heirate ich ihn, wenn nicht, dann eben nicht.“)
Zwischen den Fronten: Ideologien als Konfliktpotential
Die Kämpfe der pubertären Selmin, die sich gegenüber der Mutter emanzipieren und aus ihrer sehr behüteten Kindheit herauswachsen will, gewinnen die Sympathie ihres Onkels, der sie in ihrem Wunsch, den „Bastard“ zur Welt zu bringen, gegen den Willen seiner Schwester Mefharet unterstützt. Der Onkel, selbst Sympathisant europäischer Werte, hält die konservativen Ansichten seiner Schwester für überkommen. Trotz seiner Sympathie für Selmin häufen sich allerdings seine Zweifel. Er vermutet hinter der Schwangerschaft eine Lüge und stellt seine Nichte zur Rede. Diese gesteht, dass die Schwangerschaft erfunden sei. Ihre Absicht war, dass die Mutter die Widerstände, die diese gegen ihren Verlobten Ferhad habe, aufgibt, damit sie ihn heiraten dürfe. Dem zuvor gegangen war ein Streit zwischen der kemalistisch-liberalen Mefharet und dem turanistischen Ferhard, in dem er die türkische Identität über alle Identitäten gestellt hatte, auch über die albanische und sich – gemäß des Turanismus – für eine Einheit aller mongolischen, turk- und finnougrischen Völker in Zentralasien aussprach . Mefharet, Nachfahrin eines albanischen Generals, hatte ihn daraufhin aus der Wohnung geworfen. Auch hier zeigt Peyami Safa anhand eines Streits zwischen seinen Protagonisten das Konfliktpotential zweier rivalisierender – damals moderner- Ideologien: Turanismus versus Kemalismus.
Safa möchte den Leser*innen mit seinen Büchern auch Werte, die er priorisiert, nahebringen und so überrascht es nicht, dass sich die weiblichen Hauptfiguren am Ende seiner Werke für den „Orientalen“ und gegen den „Europäer“ entscheiden. Damit möchte er die moralische Überlegenheit des “Ostens ” über den “Westen” aufzeigen. Auch in Yalnızız entscheidet sich die Protagonistin, Selmin, trotz anfänglicher Widerstände für die Werte ihrer Familie und stellt so den Familienfrieden wieder her.
Text: Ilgın Seren Evișen
Illustration: Fatima Spieker
Ilgın Seren Evișen hat für uns noch mehr Bücher rezensiert. Hier stellt sie euch zum Beispiel “Kinyas ve Kayra” von Hakan Günday vor.