Kauf den Singvogel frei und lass ihn dann fliegen! Tust du’s nicht, und das zierliche Leben krepiert – wen trifft dann in Wahrheit die Schuld an dem Unglück? In seinem so martialischen wie feinfühligen Meisterwerk Auch die Vögel sind fort seziert Yaşar Kemal İstanbuls dunkle Seele – und jene, aus denen sie sich speist.
Die Luft in Floryas Ebene vibriert vor Farbenpracht und wildem Singsang, wenn die Herbstvögel in unzähligen Schwärmen auf den Kardenfeldern niedergehen. Seit Anbeginn der Zeit treibt der Wind sie hierher, um sich auf ihrer Reise an den nahrhaften Samen der Disteln zu stärken. Und von alters her fallen Vogelfänger gnadenlos über sie her, pferchen hunderte zarter, zerbrechlicher Wesen in Käfigen zusammen und karren sie auf die zentralen Plätze İstanbuls.
Die Gläubigen und die Gerechten dieser Stadt sind ihre einzige Hoffnung. Vor Kirchen, Synagogen und Moscheen ist es an den Menschlichen unter ihnen, eine reine und gute Tat an den gefiederten kleinen Geschöpfen zu vollbringen: Denn diese sollen aus ihrem Elend hinter Gittern freigekauft und mit einem Gebet in die Freiheit geschickt werden, um als Fürsprecher vor den Himmelspforten von der Barmherzigkeit ihrer Retter zu zeugen. So will es der Brauch. Doch lebt er noch immer?
All ihren missglückten Versuchen zum Trotz glauben drei Straßenjungen lange Zeit noch fest daran. Begleitet und unterstützt vom Erzähler, der das Trio kurzerhand unter seine Fittiche nimmt, schreiten sie mit Feuereifer zur Tat: Vogel um Vogel pferchen sie hinter viel zu engen Gittern ein und ergehen sich wortreich in Tagträumen, in bunten Visionen und Illusionen von jenem Wunder an Menschlichkeit, das sich ihnen bald offenbaren werde.
Irgendwann jedoch kommt der Tag, da sie es erneut wagen wollen, ihre flatternden Segensbringer feilzubieten. Und schon bald stellt sich heraus: Es soll der allerletzte und alles entscheidende Versuch sein. Der alte Mahmut – ein Freund des Erzählers und ehemals selbst Himmelsvogelfänger – weicht dabei nicht von ihrer Seite.Gemeinsam ziehen sie in die alte Stadt, wo es gilt, „Istanbul den Puls [zu] fühlen“. Durch ihr Angebot forschen sie nämlich im Grunde nach, ob die Menschlichkeit selbst „in der Stadt Istanbul gestorben ist oder nicht.“ Ob sie doch noch auf wahre Barmherzigkeit stoßen und die Metropole sich dadurch bewähren wird?
Das Urteil wiegt schwerer als Blei, die Sprache schwebt leicht wie nur Federn.
Nicht nur für die Protagonisten persönlich hängt damit alles vom Glück ihres Vorhabensab.Je tiefer wir nämlich in den Strudel des Geschehens geraten, desto deutlicher tritt eine Wahrheit zutage, die ebenso rührend wie bitter ist: Das Urteil, das hier gefällt werden soll, richtet zugleich über das letzte Schicksal der Seele İstanbuls. Es entscheidet, ob diese uralte Stadt von nun an Resignation oder Hoffnung, Tod oder Leben, Verderben oder süßer Erlösung geweiht sein wird.
Natürlich rührt diese radikale Schicksalsfrage in ihrer Radikalität bereits an elementare Fragen des Seins. Die Magie und das Mitreißende in Kemals faszinierender Erzählung sind jedoch keineswegs allein ihr Verdienst. Dieses Große, Ganze, Gewaltige nämlich, die besondere Sogkraft, die dem Werk innewohnt, gerät in diesem erst durch das Einfache, Private, Vereinzelte in den Blick. Der fragile Charme der kleinen Dinge, das Unmittelbare in seiner ungeschönten Ästhetik und eine einmalige Liebe zum Detail beschwören vielmehr jene Bewusstseinsströme herauf, in denen sich zu verlieren Kemal einlädt. Ihretwegen bezaubert die Geschichte mit einer Leichtigkeit, die kaum schwerer wiegt als eine Daunenfeder.
Kombiniert werden sie dabei mit der Schönheit einer einfachen, klaren und manchmal auch derben Sprache. Mal beschwörend, mal stichelnd, mal träumend, mal sezierend verleiht sie dem Geschehen Geradlinigkeit und Pracht zugleich. Zwar täuscht gerade der märchenhafte Duktus, den die Sprache vielfach über das Geschehen legt, nie über dessen so oft vorherrschende Hässlichkeit hinweg, und das soll er auch gar nicht. Doch sorgt er dafür, dass man sich allzu bereitwillig in ihm verlieren will. Gerade die Sprache lockt uns so sanft und bestimmt in eine ganz eigene Welt hinein. Und mit jedem solchen Eintauchen in Kemals İstanbul tun sich neue Rätsel und Abgründe auf.
Im Rausch des Widersprüchlichen gewinnt die Erzählung an Schönheit, Tiefe und Kraft.
Was sich nämlich in solch märchenhafter Verklärung erst als klassische Parabel tarnt, entpuppt sich bald radikal als Gespinst aus Lügen, Täuschungen, Vernebelungen und Zerrbildern. Die Magie der Stadt entschuldigt nicht ihre Verdorbenheit; die Zwielichtigkeit der Helden erfährt nie Absolution; Stoßgebete werden direkt ad absurdum geführt; und ein scharfes Auge erahnt zu viele Maskeraden – doch verzaubert, wie es ist, entlarvt es sie nicht. Immer flirtet die Erzählung mit Gegensätzen und Extremen. Befriedung und Vermittlung liegen ihr jedoch stets fern, und diese offene Janusköpfigkeit ist vielmehr ihr auszeichnendes Verdienst. Yaşar Kemals Feder zeichnet schonungslos: Darin liegt seine Kunst. Nicht allein durch Liebe zur Ästhetik, sondern erst durch die Hingabe an das Dissonante, Atonale wird seiner Erzählkunst ihre Lebendigkeit verliehen.
Die Feier des Kontrastiven und Widersprüchlichen geht sogar noch weiter, indem sich diese Konfrontation der Leserschaft mit der Doppelgesichtigkeit İstanbuls an der Perspektive der Figuren bricht. Eben darin besteht zu einem guten Teil die bitterböse, doch tief bewegende Essenz der Geschichte – dass uns die Wahrheit aufgezwungen wird, die sich ihren Helden vollkommen entzieht: Sie finden das Menschliche, ohne es zu bemerken, und erblicken das Grausame, ohne es zu sehen. Zurück bleiben angesichts dieser Ironie vor allem Verstörung und Traurigkeit – und das Gefühl, eine geliebte Person zu Grabe getragen zu haben.
Besonders die Wucht dieser Betroffenheit fasziniert und erzeugt Eingebundenheit in die Tragik des Geschehens. Es ist, als fließe aus den Zeilen ein gespenstisches, verführerisches Flüstern der Stadt selbst. Unwillkürlich stimmt ein dunkler Teil von uns ein und drängt die drei Jungen, ihre Unterstützer und all ihre Widersacher, sich gegenseitig ins Verderben zu stürzen. Brich ihnen die Flügel!, scheint diese finstere Seite unterschiedslos von allen gleichzeitig zu fordern. Denn die Erzählung bedient jenseits ihrer Verehrung des Doppelgesichtigen genau das, was nur durch den Fall aller Beteiligten wirklich befriedigt werden kann: die Lust an nackten Tatsachen, gnadenloser Brutalität, daran, Finger tief in Wunden hineinzulegen und in Abgründe zu starren, bis es schmerzt – und noch viel länger. Wohin sich das Auge auch richtet, wessen Introspektive wir gerade auch folgen: Der Untergang belauert uns so hinter jeder Ecke und in jedem Winkel. Als Verbündete des Trios fürchten wir uns zwar vor ihm. Doch als Lesende der Geschichte warten wir sehnlichst auf ihn.
Das Meisterwerk hält uns den Spiegel vor – und singt Lieder von Hoffnung und Tod.
So findet man sich selbst irgendwann so tief gespalten vor wie die Stadt, die Menschen und die Traditionen, von denen Yaşar Kemal erzählt. Die Meisterschaft des Autors erkennen wir einerseits in ebendiesem Zustand. Und andererseits offenbart sie sich darin, dass Kemal seine Leserschaft mit all diesen widersprüchlichen Dimensionen nicht in der Schwebe lässt. Stattdessen weist sein Werk nachsichtig darauf hin, dass die Zerrissenheit, mit der es uns konfrontiert, in uns selbst ihren Ursprung und ihre Entsprechung findet: in der Zweischneidigkeit der menschlichen Seele. Darum braucht es auch keines Moments der Versöhnung, um mit dem Widersprüchlichen umgehen zu können. Das Band, das dem Vielgesichtigen ein Wesen als Ganzes und Kunstwerk verleiht, ist vielmehr schon geknüpft und in uns angelegt. Wir finden in ihm das Menschliche selbst.
Nirgends offenbart sich der Spiegel, den Kemal uns damit vorhält, so klar und so mitreißend wie in der Beziehung zu seinen Protagonisten. Kaum in die Geschichte eingetaucht, werden wir in Windeseile zu Verbündeten der schalkhaften Straßenjungen. Ihre Verlorenheit, ihre Begeisterung und ihre Verschlagenheit, ihr innigstes Hoffen, ängstlichstes Bangen und dunkelstes Begehren, ihre Scham, ihr Stolz und ihr Trotz blitzen zwar immer wieder unübersehbar hervor. Doch gerade deswegen bestechen sie uns so wie auch den Erzähler mit ihrer Authentizität und ihrer Intensität – und der Schönheit der Traumwelten, die sie entwerfen. So rühren sie an etwas Ehrlichem, dem wir uns genauso wenig wie der Erzähler wieder entziehen können: Denn letztlich sehnen sie sich nach einer gerechteren Welt – oder einer, in der zumindest nicht mehr sie als Verlierer jedes Systems dastehen. Und ist das nicht ein zutiefst menschlicher Wunsch?
In ihrer Verwundbarkeit und der Art, wie sie sich dieser Welt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sehen, gleichen sie den Vögeln in ihren Käfigen so mehr, als ihnen lieb wäre. Und mit dieser seltsamen Entsprechung wird die Frage nach der Erlösung der gefiederten Fürsprecher zu der nach der Errettung der Jungen selbst. Nur durch die Befreiung der einen können auch die anderen frei sein und die Pforte zum Paradies aufstoßen. Gehen sie jedoch unter, blutet mit ihnen der Himmel, reißen jede Träne und jeder Blutstropfen, die so unnötig vergossen werden, Wunden ins Himmelszelt selbst hinein.
Auch die Vögel sind fort wird damit zu einem schwarzen Märchen, das unumwunden brutale Schicksalsfragen stellt. Es ist Yaşar Kemals vielleicht prägnanteste Liebeserklärung an die morbide, zerfallende Schönheit dieser unbezähmbaren, wilden Stadt İstanbul. Und es ist zugleich eine Spurensuche nach Humanität, die keineswegs vor dem Scheitern der Menschen und dessen Obduktion zurückschreckt. Wer die kleinen Phrasen gewaltiger Symphonien schätzt und den Mut, in den Spiegel zu blicken, aufbringt, begebe sich also in die Geschichte hinein. Zum Lohn winkt eins der schönsten Klagelieder, die İstanbuls Gassen jemals erfüllten; eine der atemberaubendsten Elegien, die ein Himmelsvöglein je sang.
Text: Sabine Katharina Geicht
Bild: Timo Müller
In der Rubrik „Bücher, die Orhan Pamuk nicht geschrieben hat“ rezensieren und empfehlen wir regelmäßig Bücher von türkischen Autor*innen: Zuletzt “Kinyas ve Kayra” von Hakan Günday oder “Die Haltlosen” von Oğuz Atay.