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Der März und seine 120 Tage

Heimatfragen in Zeiten von Corona

Als in Deutschland die erste Corona Infektion aufkam, waren wir alle noch ruhig. Viele haben die Situation nicht ernst genommen, manche noch nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn als Bedrohung empfunden. Der Virus gehörte – wie so viele andere Viren auch – auf einen anderen Kontinent, nicht zu uns. Die Tagespolitik war getrieben von der türkischen Grenzöffnung und der Weigerung der EU, ihre Grenzen zu öffnen, die Menschen rein zu lassen. Wer hätte zu dem Zeitpunkt sich erahnen können, dass eben jene Türkei, ihre Grenzen wieder schließen würden, diesmal jedoch für die Menschen aus der EU. Wir hatten in diesen Prä-Corona-Zeit noch nicht begriffen, wie sehr sich unser Leben ändern würde.

Am 2. März wird dann der erste Corona Fall in Berlin bekannt gegeben und noch am selben Tag werde ich Zeugin von Spannungen und  Aggressionen im Rossmann. Jegliche Formen der Desinfektionsmittel und Seife waren ausverkauft. Die Menschen hatten aus einer Verzweiflung und Überforderung heraus ihre Einkaufskörbe mit Handcremen und Gesichtsmasken aufgefüllt und liefen panisch durch die Gänge. Inmitten dieses Chaos hält mir eine Frau plötzlich eine Dose vor die Nase. Zurückhaltend fragt sie, ob es sich dabei um Desinfektionsmittel handelt. Weil ich das deutsche Wort nicht kannte, schaute ich in meinem kleinen Wörterbuch nach und ahne schon ihre Enttäuschung beim Verkünden meiner Nachricht: nur eine Handcreme. In dem Moment beginnt eine Frau voller Wut zu schreien: “Sie haben alles leer gekauft!” Ihre Verzweiflung ist nicht auszublenden. 

Ich halte es nicht mehr in dem Geschäft aus, fliehe und suche Schutz in den türkischen Supermärkten. Ich betrete den Eurogida direkt auf der gegenüberliegenden Seite und decke mich mit Kolonya (Kölnisch Wasser) ein, welches erst zur Hälfte ausverkauft ist. An der Kasse werde ich konfrontiert mit einer Schlange, die mich an Istanbuls Schalteran den Tagen vor Bayram erinnern. In den Körben der Menschen sind hauptsächlich Klopapier, Nudeln und Dosen zu finden. Ich betrachte die Inhalte genau, lehne es aber zu diesem Zeitpunkt noch völlig ab, ebenfalls Lebensmittel zu horten. Am nächsten Tag erreicht uns dann die Nachricht, dass Opern und Theater bis Ende April schließen müssen.

Ungefähr zehn Tage werden wir dann getrieben von der Frage, ob Corona denn jetzt nur eine Grippe oder doch mehr sei, bis dann am 11. März die WHO es endlich als Pandemie benennt. Daraufhin kommen zunächst die Absagen der Veranstaltungsorte meines Waves-Projekts, anschließend werden alle Workshops ,an denen ich teilnehmen wollte, abgesagt und zuletzt auch mein Deutschkurs an der VHS. Nach und nach werden auch meine Freund*innen panisch, die lange die Situation nicht beachtet haben. Die sich zuspitzende Situation,lässt mich eine drängende Frage nicht mehr ausblenden: Wo sollte ich während dieses Pandemie Ausbruches ausharren? In Deutschland? Ein Land, das zwar ein starkes Gesundheitssystem hat, mir aber noch völlig fremd ist, dessen Sprache ich nicht spreche und in dem ich mich nicht sicher fühle. Oder in der Türkei? Ein Land, welches zu dem Zeitpunkt noch keine Fälle gemeldet hat, jedoch mit seinem stark privatisierten Gesundheitssystem das Potenzial von italienischen Verhältnissen beim Ausbruch des Virus mit sich birgt. 

Ich frage wirklich alle meine Freund*innen um Rat und starte sogar eine Umfrage bei Instagram. Letzten Endes überwiegt mein gesicherter  Versicherungsstatus in der Türkei, das Vertrauen einer mir bekannten Sprache, sowie das Essen meiner Mutter und ich kaufe mir ein Flugticket in die Türkei für den nächsten Tag. Ich treffe mich mit einem Freund um mich zu verabschieden und während wir uns gegenüber sitzen, unwissend wann wir uns wieder sehen werden, erhalte ich eine Mail, dass aufgrund eines Gesetzeserlasses alle Flüge in die Türkei gestrichen worden seien. Diese plötzliche Entscheidung der Türkei, die Grenzen zu Europa zu schließen, stößt auf starken Protest, insbesondere von Menschen die als Tourist*innen oder Schüler*innen sich nur befristet in Europa aufgehalten haben und nun nicht mehr zurück konnten. Daraufhin öffnet die Türkei ihre Grenzen erneut, jedoch nur befristet, bis zum 18. März. Voller Hoffnung kaufe ich mir ein zweites Ticket, was jedoch erneut storniert wird, da die Türkei die Möglichkeit einer Einreise verkürzt und mein Flug verfällt. Ich entscheide mich, mit meiner in diesen Zeit enorm angestiegenen Spiritualität, dies als ein Zeichen zu sehen und in Berlin zu bleiben.

Vielleicht spürt Europa, als Zentrum der Pandemie, zum ersten Mal wieder, was es bedeutet, auf Grenzen zu stoßen. Einen Ort verlassen zu wollen, jedoch von allen Seiten, auf geschlossene Türen zu stoßen. Der Alltag, für so viele Menschen. Für viele Europäer*innen, noch nie in dieser Intensität gespürt. Wer hätte das noch vor wenigen Wochen gedacht? Die Welt scheint in ihr Gegenteil mutieren zu können, in diesen Corona-Tagen.

Aus welchem Theoriebrille man nun die Situation nun auch betrachtet, schlussendlich hat sich der Virus in der ganzen Welt ausgebreitet und überall zu einem Chaos geführt. Ich habe beobachten können, wie die Menschen in meinem Umfeld, alle zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt, den Ernst der Lage erkannt haben. Zuvor haben es viele belächelt, auf wichtigere Probleme hingewiesen oder den berühmten Vergleich mit der Grippe hergestellt. Irgendwann konnte aber die herrschende Krise von keinem mehr ausgeblendet werden und wir alle mussten unseren sicheren Alltag aufgeben und aus den bekannten Strukturen aussteigen.

Zu Beginn schaffte der Virus mit seiner grenzüberschreitenden Natur und der alle gesellschaftlichen Schichten bedrohenden Ansteckung ein Gefühl von Gemeinschaft und Gleichheit. Aber schon bald zeichnete sich ab, dass sowohl die Gesundheitsversorgung, als auch die soziale Isolation, die uns zunehmend in unsere eigenen vier Wände drängte, uns mit einer bis dahin unbekannten Wucht mit den herrschenden sozialen Ungleichheiten konfrontieren würde. Wer hat in dieser Gesellschaft Zugang zur medizinischen Versorgung? Wessen Leben ist zu schützen wert? Wer kann sich in die Sicherheit eines Zuhause fallen lassen? Wer hat überhaupt ein Zuhause? 

Ich spüre, dass in einem Land wie Deutschland, in dem die Bevölkerung staatliche Sicherheit und Vorhersehbarkeit gewöhnt ist, die durch die Pandemie ausgelöste Ungewissheit an tiefen Grundüberzeugungen rüttelt. Die Natur verdammt uns zurück in unsere Zimmer. Und in diesen Zimmern konfrontiert uns schon die zarte Berührung einer dreckigen Türklinke mit unserer so gern ausgeblendeten Endlichkeit. Menschen, die voller Vertrauen in die Welt ihre nächsten zwei Jahre geplant hatten, erzittern plötzlich vor der Zerbrechlichkeit ihres Lebens.

In dieser kollektiven Erschütterungwenden wir uns nun wieder unseren längst vergessenen Büchern, Filmen und Serien zu. Wir können uns in den neu geöffneten digitalen Archiven unterschiedlichster Plattformen verlieren, können die wildesten Rezepte nachkreieren, Solidarität für neue, aufkeimende Formen der Gemeinschaft zeigen oder aber auch den ganzen Tag im Bett liegen bleiben und tun und lassen, was wir in dem Moment wollen. Ich will niemandem etwas vorschreiben. Jedem bleibt seine Quarantäne selbst überlassen.

Ob wir nun die entstandene Leere zu füllen versuchen, oder weiter arbeiten müssen, birgt diese Zeit, vermutlich für uns alle auch ein Potenzial. Es kann eine Chance sein, in einem immer rennenden System, etwas stehen zu bleiben und sich auszuruhen. Und dabei kann es auch schön sein, ein wenig die Kontrolle zu verlieren und sich in diese wilde Zeit fallen zu lassen.

Text: Irem Aydın

Illustration: Irem Kurt

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Rough und gleichzeitig verletzlich