Elon Musk, der innovative Unternehmer und PayPal-Gründer, macht in letzter Zeit hauptsächlich mit seinem Projekt „SpaceX“ von sich reden, mit dem er bald bemannte Raumschiffe ins All schicken will, um den Mars zu kolonisieren. Und nicht nur das: Die Raketen von SpaceX sollen in Zukunft auch als Personenflugzeuge eingesetzt werden. Musk hat in Australien bereits einen Prototypen vorgestellt, der den eloquenten Namen „Big Fucking Rocket“ trägt. Diese Rakete soll eines nicht zu fernen Tages etwa 27.000 Kilometer in der Stunde zurücklegen – das ist 27 Mal schneller als ein durchschnittliches Passagierflugzeug von heute. Zur Veranschaulichung: Die Strecke von Paris nach New York wäre so in ungefähr 30 Minuten zu schaffen.
Die Vorteile dieses wahnwitzigen Vorhabens liegen auf der Hand – und trotzdem wird mir bei dem Gedanken ein wenig mulmig. Denn schon jetzt empfinde ich Flugzeugreisen als nützlich, aber gleichzeitig auch als etwas Skurriles: von einem riesigen, anonymen Flughafen geht es zum nächsten, der in den meisten Fällen genauso anonym und riesig ist und der tatsächliche Prozess des von-einem-Ort-zum-Anderen-Reisens schrumpft auf Ohrenschmerzen und wenige Stunden und Minuten in einer dunklen Kabine zusammen. Bei der Ankunft fällt es mir deshalb jedes Mal schwer, zu begreifen, dass ich nun so in so kurzer Zeit an einem völlig anderen Ort gelandet bin. Wieviel sich auf der Erde dabei geographisch, kulturell, klimatisch und kulinarisch verändert, lässt sich vom Flugzeug aus nämlich nicht erahnen. Dieser Artikel soll deshalb ein Plädoyer für eine entschleunigte Art des Reisens sein. Ich weiß: Im Zug oder Bus sitzt man sich auf längeren Strecken den Po platt und jede Viertelstunde in einem winzigen Dorf zu halten, kann anstrengend sein. Wenn es einem aber darum geht, ein Land in seiner Vielfalt zu erfassen, dann ist so eine bewusst langsame Art zu Reisen genau das Richtige.
Die Türkei in ihrer Vielfalt kennenzulernen, hatten mein Freund und ich uns im November letzten Jahres vorgenommen, als wir uns auf den Weg Richtung Osten machten. Nach einigen Monate in Istanbul hatten wir uns langsam an das Tempo, die Lebensfreude und das Überangebot an Aktivitäten gewöhnt und die Neugier auf den Rest des Landes begann zu wachsen. Die Erfahrung, dass eine Metropole ihr Land in seiner Gänze nicht zu repräsentieren vermag, hat wohl jeder schon einmal gemacht. Wer Berlin kennt, kennt nicht Deutschland, ist ja klar. In der Türkei gilt das genauso, wenn nicht noch mehr: Die überfüllte Metropole Istanbul steht in krassem Kontrast zu kargen, kaum bevölkerten Landschaften in Zentralanatolien, dem tropischen Flair der Mittelmeerregion und Bergdörfern im Osten des Landes.
Als ein Freund im gemeinsamen Türkischunterricht nebenbei von einem Ausflug erzählte, den er vor einigen Monaten unternommen hatte, machten uns seine Berichte neugierig: Fast 30 Stunden im Zug war er unterwegs gewesen, einmal quer durchs Land. Das klang nach Abenteuer und nach einer Alternative zu den Bussen voller Touristen, die täglich nach Kappadokien gefahren werden. Je mehr wir über die Route herausfanden, desto sicherer waren wir, uns auch auf den Weg machen zu wollen. Die Strecke würde uns von Istanbul über Ankara einmal durch die ganze Weite der Türkei bis nach Kars führen. Zu einer kleinen Stadt, nur wenige Kilometer von der armenischen Grenze entfernt. Allzu viel vorzubereiten gab es nicht und so machten wir uns wenige Wochen später auf den Weg.
Istanbul – Ankara
Früh am Morgen geht es los: der Yüksek Hızlı Tren nach Ankara fährt von Istanbul Pendik ab, einem Bahnhof auf der asiatischen Seite außerhalb des Stadtzentrums. Von unserer Wohunung in Beyoğlu brauchen wir beinah zwei Stunden, um dorthin zu kommen, und sind heilfroh, als wir es pünktlich geschafft haben und uns in den komfortablen Zugsitzen niederlassen. Bald geht es los, die letzten Ausläufer der immer weiter wachsenden Stadt liegen hinter uns und wir brausen durch karge, weite Landschaften, gesäumt von schneebedeckten Bergen im Hintergrund. Der Zug ist recht voll, hauptsächlich mit Familien und Geschäftsleuten. Trotzdem können wir bequem in einem Viererabteil am Tisch sitzen und einige Runden tavla spielen. Dabei bestaunen wir die Aussicht und spüren kribbelige Vorfreude im Bauch. Als wir dann gegen Mittag in Ankaras hochmodernen Bahnhof einfahren, ist es als erstes der Temperaturunterschied, der uns auffällt. Es ist merklich kälter hier, aber zum Glück sind wir darauf vorbereitet. Der Zug nach Kars wird erst am Abend losfahren, und so haben wir einige Stunden Zeit, die Stadt zu erkunden. Die Unterschiede zu Istanbul sind extrem, man merkt, dass sich Ankara durch seine Ernennung zur Hauptstadt mehr oder weniger künstlich vergrößert hat. Die Bevölkerungszahl vor 1923 belief sich auf nur 25.000, heute ist Ankara mit 5,4 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. So kommt es, dass das Stadtbild von modernen Hochhäusern geprägt ist; sie repräsentieren die Versuche des türkischen Staates, die immer noch große Zahl an Hinzuziehenden unterzubringen. Dagegen wirkt die Altstadt noch beinah dörflich: Wenn man sich von den befahrenen Hauptstraßen und dem gläsernen Bahnhofsgebäude entfernt, steht man schnell auf Pflastersteinen oder gänzlich unbefestigten Wegen.
Natürlich lassen wir es uns nicht entgehen, das Ehrendenkmal des Mannes zu erkunden, dem die Stadt ihre rasante Entwicklung zu verdanken hat: Mustafa Kemal Atatürk. Die an Personenkult grenzende Verehrung, die dem Gründervater der Republik zuteil wird, findet sich in seiner letzten Ruhestätte auf die Spitze getrieben. Das Mausoleum thront über der Stadt, und man kann nicht anders, als staunend den Kopf in den Nacken zu legen, um es in seiner imposanten Größe wahrzunehmen. Hier erfährt man einiges zum politischen Werdegang sowie der persönlichen Geschichte Atatürks. Das eigentlich Interessante für uns war aber, die anderen emotional ergriffenen Besucher*innen zu beobachten.
Nach einer mercimek corbası zum Aufwärmen machen wir uns dann schon wieder auf den Weg zurück zum Bahnhof. Was wir nicht bedacht haben, ist, dass es in Ankara mehrere Bahnhöfe gibt – dementsprechend haben wir uns natürlich nicht darum gekümmert, von welchem wir überhaupt losfahren. Bei näherer Überlegung scheint es fraglich, dass von jenem modernen Terminal, an dem wir angekommen sind, auch die langsamere Regionalbahn starten wird. Kurzer Momente Panik, als uns zusätzlich auffällt, dass der Zug eine halbe Stunde früher losfährt als gedacht. Es ist unser Glück, dass die Mitarbeiter*innen im modernen Bahnhof, wo wir unser Gepäck abholen müssen, sehr freundlich und hilfsbereit sind. Sie weisen uns den Weg zu einem älteren Gleis, das wir allein niemals entdeckt hätten. Es liegt auf der Rückseite des neuen Gebäudes und ist nur über dessen Hinterausgang und eine Brücke zu erreichen, die Alt und Neu verbindet. Nach einem kurzen Sprint erreichen wir außer Atem unser Ziel und werden von einem gelangweilten Schaffner, den unsere Hektik unbeeindruckt lässt, zu einem Bus verwiesen. Moment mal, zu einem Bus? Wir sind ungläubig, fragen bei unseren wenigen Mitreisenden nach. Wir sprechen jedoch kaum Türkisch, sie kaum Englisch, und so zucken sie bloß die Schultern, nicken, lachen und versichern, sie führen auch nach Kars. Also steigen wir, noch immer zögerlich, ein und fragen uns, ob uns nun statt der romantischen Nachtzugreise 28 Stunden im Bus erwarten.
Info: Zugtickets gibt es im Online Shop der türkischen Eisenbahngesellschaft TCDD (www.tcdd.gov.tr). Die wichtigsten Angebote und Infos der Seite sind auch auf Englisch verfügbar. Für den Schnellzug von Istanbul nach Ankara haben wir etwa 75 Lira bezahlt, so ist man in etwas mehr als 4 Stunden in der Hauptstadt der Türkei. Der fährt, wie erwähnt, von der Station Pendik ab, also sollte man auf alle Fälle genügend Zeit einplanen, um die zu erreichen! Es gibt, alternativ zum Schnellzug, auch etwas langsamere Busse (ca. 5-6 Stunden) und Züge (ca. 7 Stunden).
Ankara – Kars
Zum Glück erweist sich unsere Sorge als unbegründet. Nach einer halben Stunde Busfahrt über dunkle Landstraßen erreichen wir einen winzigen Bahnsteig. Wir folgen unseren Mitfahreri*innen einfach in den Zug, der bereits auf uns wartet. Dort wird uns ein kleines, gemütliches Abteil zugewiesen. Wir haben ein eigenes Waschbecken und einen kleinen Kühlschrank, in dem Salzstangen, Saftpackungen und Wasser für uns bereit stehen. Nachdem der Zug langsam losruckelt, macht der freundliche Schaffner die Runde und klappt, konzentriert und professionell, die Hochbetten für uns aus. Wir erkunden noch kurz den Zug und nehmen den Waggon mit dem Speisewagen und die kleine Toilette am Ende des Ganges in Augenschein. (Die ist zu Beginn der Reise extrem sauber, im Laufe der Reise beginnt sie allerdings immer strenger zu riechen.) Mit der Gewissheit, es hier gut aushalten zu können, machen wir es uns in den Stockbetten gemütlich und lassen uns vom Ruckeln des Zuges in den Schlaf wiegen.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, schiebe ich als Erstes den Vorhang zur Seite, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Die Aussicht ist großartig, wir fahren inmitten von Bergen an eisigen Flüssen vorbei, und einige Augenblicke bleibe ich einfach nur liegen und beobachte. Zum Essen gehen wir dann in den Speisewagen, da wir unterschätzt haben, wieviel Proviant wir brauchen würden. Das Frühstücksangebot beschränkt sich auf getoastetes Weißbrot, wahlweiße mit Käse oder mit Käse und suçuk. Weil es im Speisewagen so gemütlich ist und man nicht, wie auf dem unteren Stockbett in unserer Kabine, ständig den Kopf einziehen muss, bleiben wir einfach sitzen. Man hat Gesellschaft, eine gute Aussicht, günstigen çay und genügend Platz zum Beine ausstrecken und tavla spielen – was will man mehr? So verbringen wir beinah den ganzen Rest der Reise, unterhalten uns hin und wieder mit Mitreisenden, beobachten Dörfer und Siedlungen, die wir passieren, und sehen zu, wie die Berge und Täler immer weißer werden. In Erzurum erwartet uns ein Highlight der Fahrt. Sobald wir halten, springen alle Mitreisenden aufgeregt aus dem Zug und laufen auf einen Mann zu, der dort schon mit Plastiktüten beladen wartet. Wie sich herausstellt, arbeitet er als Auslieferer bei Yemek Sepeti, und es ist ein unter türkischen Student*innen bekannter Gag, dass man sich genau hier sein Essen zum Zug bestellen kann. Da wir nichts bestellt haben, bleibt uns der staubige Kiosk, in dem ein älteres Ehepaar Süßigkeiten und Wasserflaschen verkauft. Dann geht es zurück in den Zug, wo wir uns von der Abendkarte kuru fasülye und köfte bestellen und den Sonnenuntergang beobachten, der ewig anzudauern scheint. Die rosa Streifen über der mittlerweile völlig verschneiten Berglandschaft sehen wunderschön aus und alle versammeln sich im Speisewagen, um das Spektakel zu bestaunen.
Gegen 19 Uhr, mehr als einen Tag, nachdem wir in Ankara aufgebrochen sind, kommen wir in Kars an. Es ist bereits dunkel, die Temperatur liegt bei -14 Grad, und aufgrund der trockenen Kälte sind die Straßen wie leergefegt. Wir haben uns via Couchsurfing mit Ali verabredet, der uns für die nächsten Tage bei sich beherbergen wird. Sein erster Tipp: Immer nach oben schauen und auf Eiszapfen achten, die gerne mal von Dächern oder Regenrinnen auf ahnungslose Köpfe hinunter fallen können. Ali kommt ursprünglich aus Bodrum und dass es ihn nun ins eisige Kars verschlagen hat, scheint er manchmal selbst nicht fassen zu können. Wie alle Student*innen, die wir kennenlernen, ist er nur wegen des Studiums gekommen und schwärmt von seiner Heimat. Seine Freund*innen und er machen das Beste daraus, scherzen, trinken Wodka und halten zusammen in ihrer Sehnsucht nach der Wärme und dem Meer.Ali wohnt mit seinem Mitbewohner Emre im Stadtzentrum und wir finden die Wohnung ohne Probleme. Die beiden sind so gastfreundlich, witzig und lieb, dass wir sie sofort ins Herz schließen. Noch am ersten Abend gehen wir mit Ali lahmacun essen und er hilft uns dabei, einen Plan für die nächsten Tage aufzustellen. Wir werden Ani besuchen, eine alte Ruinenstadt, die ehemals Hauptstadt von Armenien und ein heftig umkämpfter Ort gewesen ist. Er erzählt uns, dass Ani als „Stadt der 1001 Kirchen“ galt und durch die Lage an der Seidenstraße viel bevölkert und strategisch wichtig war. Deswegen wurde Ani erst von Seldschuken und später von Mongolen eingenommen. Die alte, nach einem Erdbeben um 1319 völlig verlassene Stadt erstreckt sich über ein weites Areal. Neben Ruinen von katholischen Kirchen kann man auch die erste Moschee Anatoliens betreten, über eine riesige Schlucht bis nach Armenien schauen und an der so oft belagerten Stadtmauer entlang streifen. Ein Ausflug lohnt sich in jedem Fall. Neben Ani Sehir empfiehlt uns Ali außerdem, die Burg zu besuchen, die unweit des Stadtzentrums auf einem kleinen Hügel liegt und von der aus man die Stadt überblicken kann. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung zeigt er uns die größten Gebäude von Kars, Verwaltungszentren, die aus sowjetischer Zeit stammen. Während des russisch-türkischen Kriegs Ende des 19. und des 1. Weltkriegs Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Kars erst an Russland, dann wieder an das Osmanischen Reich beziehungsweise die Türkei zurückgegeben. Den sowjetischen Einfluss spürt man immer noch: Die Straßen im Zentrum sind alle penibel rechteckig angelegt und auch die Häuser und der Baustil erinnern an russische Architektur, ganz anders als in Istanbul und Ankara. Insgesamt bleiben wir zweieinhalb Tage in Kars, bevor wir den Rückweg antreten. Das ist nicht lang, aber außer noch mehr Zeit mit Ali und seinen Freund*innen verbringen zu wollen, haben wir in Kars alles geschafft, was wir uns vorgenommen haben. Die Stadt an sich ist klein und nachdem wir in Ani waren, die Moschee der Stadt und die Burg angeschaut und in mehreren studentischen Cafés Mokka getrunken haben, gibt es in der Eiseskälte nicht mehr viel zu unternehmen.
Unser Ausflug hat sich definitiv gelohnt: Ankara und Kars sind für die Geschichte der Türkei und des Osmanischen Reiches bedeutende Städte und es war toll, beide Orten, die Art der Menschen, das Essen, und die Landschaften zu erleben. Wir haben eine Menge gelernt, und die Warnungen türkischer Freund*innen, nach denen der Charakter der Einwohner*innen von Kars verschlossen und griesgrämig sein soll, können wir nicht bestätigen. Falls das in Ausnahmen stimmen sollte, muss das am ewigen Winter und der Furcht vor herabfallenden Eiszapfen liegen.
Info: Auch die Tickets für das Zweibett-Abteil von Ankara nach Kars gibt es auf der TCDD Website. Diese kosteten etwa 105 Lira. Es gibt auch die Option, Plätze in Vierbett Abteilen zu buchen, das ist ein wenig günstiger. So hat man die Chance, Mitreisende kennenlernen, aber es kann auch sein, dass man dort seine Privatsphäre hat, da die Züge oft nicht ausgebucht sind. Nach Ani ist man ungefähr 45 Minuten unterwegs, ein Bus fährt jeden Tag um 9 oder 11 Uhr aus dem Zentrum und kostet ungefähr 15 Lira, der Eintritt nochmal 10. Falls ihr Studenten seid: Studentenausweis mitnehmen und sowohl im Bus als auch am Eingang in Ani nach Rabatt fragen! Mit der Museumskarte für staatliche türkische Museen (müzesi kart) kann man die Ruinenstadt sogar umsonst besuchen.
Wir haben uns gegen ein Hotel entschieden und stattdessen auf Couchsurfing einen Gastgeber gefunden. Wenn man darauf nicht so viel Lust hat, gibt es in Kars und Umgebung auch erstaunlich viele Unterkünfte, in denen man zwischen 30 und 80€ pro Nacht für ein Doppelzimmer zahlt (z. B. auf booking.com).
Text: Charlotte Prokop
Fotos: Charlotte Prokop & Arian Henning
Redaktion: Judith Blumberg