„İstanbuldaş“, sagt Nuduran zu mir, als ich mit zwei Getränken zur Bierbank zurückkehre. Sie geht auf meinen fragenden Blick ein und erläutert: „arkadaş – weißt du, was das heißt?“ „Klaro“, antworte ich. Dann ergänzt sie: „„İstanbuldaş“, das habe ich gerade für uns erfunden, weil wir zwei İstanbul-Liebenden uns auf allen Ebenen gleich verstehen.
Nurduran Duman und ich treffen uns zwischen bunten Lampions und Lichterketten auf dem Ottmar-Pohl-Platz in Köln-Kalk, auf dem verschiedene Lyriker*innen anlässlich des Europäischen Literaturfestivals lesen sollen. Auch Nurduran, die am selben Morgen aus İstanbul angereist ist. Auf Anhieb sprechen wir die gleiche Sprache, vielleicht wegen der Liebe zur Poesie, vielleicht aus Liebe zu İstanbul, der Stadt in der die Lyrikerin lebt. Das Gespräch mit Nurduran wird bestimmt von Heiterkeit, Natürlichkeit, Nähe und Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die ihre Lyrik lesen und sie nachempfinden können.
Geboren ist sie in Çanakkale, nach İstanbul zog sie für ihr Studium in Schiffsbau und Schiffstechnik. Lyrik schrieb sie schon weit früher. Nurduran verfasst Gedichte, seitdem sie acht Jahre alt ist. Erst winkt sie ab und sagt, ihr erstes Gedicht sei bloß ein Kindergedicht gewesen, doch es kristallisiert sich ein Leitmotiv ihrer Lyrik heraus. Ein Baum: erguvan (der sog. gewöhnliche Judasbaum). Ihre Liebe zu Bäumen ist für sie eine treibende und inspirierende Kraft. Ich frage sie, ob diese Liebe in einer Großstadt wie İstanbul erfüllt werden kann, aber sie habe einen Garten, in dem sie manchmal ihren Lieblingsbaum umarme, um Kraft zu tanken, sagt sie.
Eine positive Kraft strahlt Nurduran aus und darauf legt sie auch großen Wert. Schreiben möchte sie nicht, wenn sie traurig ist. Das würde ihre Sprache negativ beeinflussen. Sie möchte die Traurigkeit nicht noch mit traurigen Wörtern füttern. Unsere Sprache solle sich in Licht verwandeln, um die Dunkelheit der Traurigkeit zu bekämpfen, findet Duman. Auch das Wort kämpfen gefällt ihr nicht: Wenn Nurduran gegen etwas kämpfen möchte, dann setze sie lieber positive Exempel, denn mit einer positiven Haltung könne man mehr erreichen als mit Wut. Nur so käme man voran und errichte eine friedlichere, reinere Welt. Diese Haltung schlägt sich auch in ihren Publikationen nieder.
Zum Schreiben allein reicht Nurduran aber die aus dem Meer oder aus der Kraft der Bäume geschöpfte Inspiration nicht aus. Sie vertritt die Haltung, wer schreiben möchte, braucht nicht nur Talent, sondern auch ständigen geistigen Hunger, der mit Literatur, Erfahrungen, Empfindungen und vielen weiteren Eindrücken gefüttert werden muss. Überall gebe es Gelegenheit sich auf die Umgebung und Gesellschaft einzulassen – für eine neue Erfahrung und ein neues Gefühl. Um dies möglichst ausfüllend zu erreichen, legte Duman irgendwann ihre Arbeit als Schiffbauingenieurin nieder und widmete sich ganz dem Wort. Dadurch, vermutet Nurduran, verkörpern ihre Gedichte auch die Vollständigkeit und Reinheit, die sie selbst bei sich fühlt. Zumindest wird ihrer Lyrik das immer wieder zugebschrieben.
Ich frage sie, wie lange sie braucht um ein Gedicht zu schreiben. Das sei sehr unterschiedlich. Manchmal bloß 15 Minuten, manchmal ein Jahr, doch sicher ist, dass sie jedes Gedicht überarbeitet, antwortet Duman. Sie glaube nicht daran, dass ein Gedicht nach dem ersten Mal Niederschreiben fertig sein könne. Ein Fan von geregelten Schreibzeiten sei sie ebenfalls nicht. Wer sich jeden Tag neu auf das Leben einlässt, ist jeden Tag ein neuer Mensch und woher solle sie denn wissen, ob sie am Tag danach zur geplanten Uhrzeit überhaupt noch schreiben wolle.
Eine andere Lyrikerin, sagt Nurduran, wäre sie auch, wenn sie nicht in der Türkei geboren wäre und in einer anderen Sprache schreiben würde. Das Besondere am Türkischen sei, welchen Interpretationsspielraum die Sprache den Lesenden gebe. Poesie entstünde oft erst durch die geplanten Aussparungen, die das Gedicht für die Lesenden zum Füllen offen ließe. Für Nurduran ist Hermann Hesse ein Poet, der dazu besonders in der Lage ist. Er sei, neben Goethe, ihr Lieblingsdichter. Die Beiden seien wohl ihre stärkste Verbindung nach Deutschland.
Es ist abgekühlt und dunkel geworden, als Nurduran die Bühne betritt – einer der ersten kühlen, den Sommer abschließenden Abende, der bereits nach Herbst schmeckt und die ersten Sehnsüchte nach dem nächsten Sommer weckt, weil die Kälte erstmalig wieder die Beine hochkriecht. Im Scheinwerferlicht tanzen ein paar Insekten, die vor der Kälte noch nicht geflohen sind. Als Nurduran liest, wird mir wieder ein bisschen wärmer. Während ihrer Lesung, in der ich auch den deutschen, leider noch nicht publizierten Übersetzungen lauschen darf, lassen ihre vorgetragenen Gedichte ein phantastisches Bild in meinem Herzen entstehen und den Wunsch, dieses Bild möglichst lange zu erhalten. Weil es die Eröffnung des Festivals ist, lesen alle Lyriker*innen leider nur drei Gedichte. Nurduran hält sich (fast) daran und hinterlässt im Publikum den Wunsch nach mehr.
Text: Carina Plinke
Foto: Amer Kashma