Ob bunte Patiks, Granatäpfel oder mit Henna verzierte Hände – es sind alltägliche Motive aus der Diaspora, die Şeyma Sarıyıldız (Susu) in ihren Illustrationen festhält und damit ein Stück materieller Erinnerungskultur schaffen will. Wir haben mit der Künstlerin über ihre Motivation, künstlerische Auseinandersetzung mit Identitätsfragen und das Verschmelzen von Tradition und Gegenwart gesprochen.
Maviblau: Wann hast du damit angefangen dich künstlerisch mit Identitätsfragen auseinanderzusetzen?
Şeyma Sarıyıldız: Meine Kindheit war geprägt von einem eher weiß dominierten Umfeld. Meine Eltern haben keine Mühen gescheut, um mich in eine Schule zu schicken, in der der Anteil an Kindern, mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ so gering war, dass ich mich oft ungenügend und fehl am Platz fühlte. Ich habe mich oft dabei ertappt, meine Identität und die großartigen Geschichten meiner Großeltern und Familie zu verdrängen, um mit Mitschülern mitreden zu können oder Lehrern zu gefallen. Zuhause konnte ich echt sein. Ich zeichnete schon früh Dinge und Berühmtheiten ab, die ich im Fernseher sah oder deren Musik ich mit meinem Baba anhörte – Dinge, die mir im Umgang mit meinen deutschen Mitschülern möglicherweise beschämend vorkamen, weil keiner von ihnen sie kannte. Ich erinnere mich an starke Identitätskrisen, wenn ich meine Hände, die von meiner Oma liebevoll mit Henna bemalt wurden, verstecken musste, weil sich Mitschüler ekelten oder wenn keinerlei Anstrengung unternommen wurde, meinen Namen korrekt auszusprechen. Banalitäten, die für mich so gewöhnlich waren, aber draußen für die Anderen keinen Sinn ergaben. Ich fing früh an, Motive aus dem Urlaub im Dorf nachzuzeichnen oder die Muster auf dem Kilim meiner Großeltern abzumalen. Je älter ich wurde, desto mehr hinterfragte ich kulturell-gesellschaftliche Verhaltensmuster und verarbeitete sie in kleinen Zeichnungen oder Comics. Mit der Zeit verstand ich, dass es gut ist, wenn nicht jeder alles versteht und es wichtig ist, Differenzen innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges zu haben. Ich fing vermehrt an, meinen kulturellen Bezug in meine Kunstprojekte in der Schule einzubeziehen und meine Zeichnungen öffentlich zu teilen.
Was inspiriert dich? Woher nimmst du deine Motive?
Şeyma Sarıyıldız: Meine Großeltern und ihre Geschichten haben einen sehr großen Einfluss auf meine Motive. Angefangen von den selbstgestrickten Patiks (kurze Socken) meiner Oma, die sie mit langen, bunten Socken weit über ihre Hosenbeine trägt, bis hin zu den getrockneten Auberginen an dem dünnen Baumwollfaden an ihrer Küchentür, die sie mit ihren zittrigen Händen durchfädelte. Die Anekdoten meines Opas, wie er das erste Mal im deutschen Markt ein Huhn imitierte, um nach Eiern zu fragen oder von seiner bleichen Haut erzählt, weil er nie die Möglichkeit hatte Tageslicht zu sehen. Die Garnfabrik, die keine Fenster hatte und der viele Staub, der durch die Beleuchtung im großen Saal sichtbar war und wie ein Nebel in der Luft tanzte. Aber auch Dinge, die ich eher selten im deutschen Supermarkt finde, wir aber in großer Gemeinschaft miteinander zubereiten und essen, Gerüche, der Park, in dem wir jedes Wochenende große Familien-Picknicks arrangierten oder die Straßen in Kreuzberg, in denen ich aufgewachsen bin und keiner meiner Schulfreunde aus anderen Stadtteilen besuchen durfte, weil ihre Eltern es zu gefährlich fanden.
Es sind kleine, alltägliche Dinge, die mich in der Diaspora geprägt haben, in denen ich mich wiederfinde und in mir eine Emotion auslösen. Es sind Dinge, die ich früher öfter gesehen haben wollen würde, um mich repräsentiert und verstanden zu fühlen. Daneben geben mir aber auch sozialkritische Themen, tagesaktuelle Nachrichten aus aller Welt, einen Impuls und projizieren ein Bild, ein Arrangement in meinem Kopf, dass ich auf Papier, digital oder analog, wiedergebe und verarbeite.
Welche Besonderheit hat die Ausdrucksform in Bildern für dich? Inwiefern kannst du damit Dinge anders ausdrücken, als mit anderen Medien?
Şeyma Sarıyıldız: Ich kann nicht besonders gut musizieren oder dichten, habe keine schöne Stimme oder tanze gerne. Die Umsetzung auf Papier oder digitalen Leinwänden ermöglicht mir Dinge in meiner Vorstellung festzuhalten und mit meinem Umfeld in einen Dialog einzutreten. Künstlerischer Ausdruck ist für mich weitaus mehr als nur Ästhetik. Es dient mir, visuelle Geschichten zu erzählen und gesellschaftliche Strukturen aufzunehmen. Mein Anliegen ist es, dem Betrachter ein Gefühl, eine Erinnerung zu schenken, in der er die Möglichkeit hat, seine eigene Geschichte im Betrachteten wiederzufinden und gedanklich zu vervollständigen. Ich möchte, dass Außenstehende einen Bezug herstellen können, ihnen warm ums Herz wird. Ich denke, die Ausdrucksform in Bildern ermöglicht mir, mich mit den Motiven auseinander zusetzen, Dinge über mich zu erfahren und meine Identität zu finden und zu reflektieren. Bis heute noch.
Wie ist es für dich, solch persönliche Motive mit einer Öffentlichkeit zu teilen?
Şeyma Sarıyıldız: Ich finde es immer wieder spannend, zu sehen, dass Außenstehende sich mit Dingen identifizieren können, die mich und meine Familie betreffen. Das ein banales, mir bekannte Verhaltensmuster meiner Großeltern, Emotionen bei ihnen unbekannten Menschen auslösen kann, finde ich sehr aufregend. Es zeigt mir, wie verbunden wir doch miteinander sind, wie vergleichbar wir geprägt wurden. Dass wir uns innerhalb eines kollektiven Gedächtnisses bewegen und verstehen, ohne viel nachzufragen oder reden zu müssen. Gerade im Zeitalter der sozialen Medien, haben wir die Möglichkeit und eine Plattform, die Thematik der Vielfalt und Differenz zu behandeln und in die Welt zu tragen. Und schön finde ich es, wenn ich meinen Großeltern meine Illustration zeige, sie sich oder Dinge aus ihrem Haushalt Wiedererkennen, drauf zeigen und schmunzeln.
Du schreibst, dass du mit deinen Bildern auch „gegen das Vergessen“ wirken möchtest. Welche Beitrag kann Kunst für Erinnerungskultur leisten?
Şeyma Sarıyıldız: In einer Zeit, in der wir alles viel zu schnell und im Übermaß konsumieren, vergessen wir, dass uns eine begrenzte Zeit bleibt, Dinge festzuhalten. Wir haben die einzigartige Möglichkeit, die erste Generation, die Gastarbeiter in Deutschland noch miterleben zu können, Fragen zu stellen und ihre unglaublich starke Geschichte zu ihrer Migration nach Deutschland von ihnen erzählt zu bekommen. Wir können ihnen noch dabei in die Augen schauen, sie umarmen und über die Verständigungsprobleme und Missverständnisse lachen. Sie haben uns und Deutschland geprägt. Sie haben ihr Leben für das Land, das uns, ihren Kindern und Enkelkindern zum Zuhause wurde, komplett umgestellt. Sie und ihre Geschichte, ihr Einsatz für Deutschland wird meines Erachtens nach nicht ausreichend wertgeschätzt und sie erhalten kaum Beachtung. Kaum einer setzt sich wirklich mit Ihrer Geschichte auseinander. Sie sind gekommen und werden verschwinden. Kaum jemand schenkt Ihnen Zeit. Sie waren nicht nur zwei Hände am Fließband, sie haben ihre Kultur, ihre Emotionen, ihre Erinnerungen, ihre Hoffnungen und ihre Träume mitgenommen. Wie schade wäre es, diese Dinge nicht aufzugreifen und in Vergessenheit geraten zu lassen?
Ich überlege oft, ob das kulturelle Erbe unserer Familien für die nächsten Generationen in Deutschland bestehen bleiben wird: Werden meine Enkelkinder perplex sein, wenn bei mir Zuhause die gestrickte Spitze meiner Großmutter zu dekorativen Zwecken auf dem Fernseher liegt? Werden sie auch in der Schule ihre bemalten Henna-Hände verstecken? Werden sie sich die Hände überhaupt noch bemalen? Werden sie stundenlange Gespräche über die Geschichte ihrer Ur-Großeltern führen und çay trinken?
Du schreibst, dass deine Arbeiten „mit meiner sich ständig wandelnden Gegenwart“ verschmelzen. Wie würdest du die Wechselwirkung zwischen Erlebtem und deinen Arbeiten beschreiben? Und welche Entwicklungen deiner Arbeiten kannst du dabei eventuell beobachten?
Şeyma Sarıyıldız: Umstände verändern sich. Sie sind nicht konstant. Was ich als Kind überhaupt nicht spannend fand, löst heute eine Welle von Gefühlen in mir aus. Ich betrachte die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Ich merke zunehmend, wie wir uns als Gesellschaft verändern. Dabei spielen kulturelle Aneignung und Gentrifizierung eine erhebliche Rolle. Meinem Opa wurde früher gesagt, er brauche die deutsche Sprache nur, solange es in seiner alltäglichen Arbeit notwendig ist, keiner hat ihn in einen Deutschkurs geschickt. Die Zeit hätte er in Anbetracht seiner 18 Stunden-Schicht ja sowieso kaum gehabt. Seinen Enkelkindern wurde mit Klassenbucheinträgen gedroht, wenn sie auch nur ein Wort türkisch sprechen sollten. Mein Opa hat sich mit viel Mühe, aus Eigeninitiative deutsch beigebracht. Er kann einige Worte sagen und Sätze formulieren, damit er sich im Alltag verständigen kann. Mit seinem türkischen Akzent sagt er „eine Tüte, bitte, ja ja, danke!“ oder mit vollem Stolz und seinen zusammengekniffenen, blauen Augen „Das ist meine Enkel“. Er lernte auch mit viel Anstrengung, Kaffee mit Milch und Zucker zu bestellen. Er spendierte mir nach dem Einkauf oft ein Kaffee und ist jetzt verwundert, wenn er in Kreuzberg, in kaum einem Laden sein Kaffee auf Deutsch bestellen kann. Und nicht nur er ist verwundert, ich auch. Jetzt fragt er mich, „Allah, Allah. Kizim, was heißt Kaffee mit Milch und Zucker auf Englisch?“.
Es ist manchmal nicht einfach zu verstehen, welchen ungeschriebenen, gesellschaftlichen Regeln bestimmte, vor allem marginalisiert Gruppen unterlegen sind und wie immer neue Stereotypen erzeugt werden. Genau, dabei hat der Döner in der türkischen Kultur kaum eine relevante Bedeutung. Wofür wir uns gestern schämen sollten, ist heute Trend und in aller Munde. Ich merke auch, dass dies alles in meine Arbeiten einwirkt. So mische ich, alte, traditionelle Motive mit Elementen, aus der Gegenwart, die beispielsweise meinen Großeltern unbekannt sind. Meine fiktiven, augenscheinlich nicht deutschen Großeltern in meinen Illustrationen essen Spagetti Carbonara mit turşu (eingelegte, scharfe Paprika) oder empowern auf Postkarten ihre Enkelkinder auf Englisch.
In manchen deiner Arbeiten verfremdest du auch Werke von berühmten Künstlern. Welche Rolle spielen Kontraste und Gegensätze in deiner Arbeit?
Şeyma Sarıyıldız: In der Schule werden großartige Künstler der europäischen Geschichte aufgezeigt. Jeder und jede von uns kann mindestens drei von ihnen aufzählen. Wir wissen welchen Stil sie repräsentieren, welche Farben sie vorzugsweise nutzten und können sie anhand der Pinselführung differenzieren. Zweifellos haben diese auch mich geprägt und ich finde viele von ihnen großartig!
Alles abseits des eurozentrischen Weltbildes wird nicht ansatzweise gelehrt und thematisiert. Wir müssen uns davon lösen, die europäische Kultur und Kunst als den Bewertungsmaßstab abzubilden. Genau diese Thematik greife ich in einigen Interpretation auf-ich wandle populäre Kunstwerke, die Menschen bezugslos in ihrem Wohnzimmer hängen haben und nahezu jeder von uns kennt um und füge Elemente und Farben die einen kulturellen Bezug haben ein. So vereine ich beide Kontraste zu einer Harmonie, wie ich finde. Ich denke, nichts gegen Michelangelo Buonarroti und Co, diese kleinen Feinheiten lassen die Werke in einem anderen Licht wirken.
Welche Visionen oder Projektideen hast du für die Zukunft? Was würdest du gerne noch umsetzen oder sind deine Pläne für die kommende Zeit?
Şeyma Sarıyıldız: Was für mich als kleines Projekt angefangen hat, wird mithilfe von vielen Menschen immer wichtiger und bedeutsamer. Ich merke, dass die Nachfrage nach Abbildung der materiellen und immaterieller Erinnerungskultur sehr hoch ist. Es ist auch kein Geheimnis, dass BIPoC nahezu kaum im deutschsprachigen Raum repräsentiert werden, und der Zugang zu Kunst oft erschwert wird. Es scheint immer einer kleinen, privilegierte Gruppe der Gesellschaft vorbehalten zu sein, ausgestellt zu werden, geschweige denn einen Schlüsselanhänger mit eigenen Namen im Schreibwarengeschäft zu erhalten. Da ist noch viel Aufholbedarf, den ich sicherlich nicht alleine, sondern mit vielen kreativen Köpfen mit diversen Bezügen decken kann.
Ich bin ein impulsiver Mensch, ich werde geleitet durch meine Gefühle. Ich plane nichts spezielles für die Zukunft, wünsche mir aber einen Raum einzunehmen, in dem ich als dritte Generation in Deutschland mitwirken, die Geschichte unserer Großeltern/ Eltern an eine Plattform tragen und Menschen Gefühle von Heimat und Vertrautheit vermitteln kann.
Interview: Marlene Resch
Illustrationen und Foto: Şeyma Sarıyıldız