Ein fast vergessenes Kapitel deutsch-türkischer Geschichte ist momentan im Kino zu sehen: In “Haymatloz” erzählt die Regisseurin Eren Önsöz, wie die Türkei 1933 für viele deutsche Wissenschaftler zu einer neuen Heimat wurde. Während diese in Nazideutschland als Juden oder Regimekritiker ihre Arbeit verloren, lud Mustafa Kemal Atatürk sie ein, ein Universitätssystem nach europäischem Vorbild aufzubauen. Bei der Filmpremiere von “Haymatloz” in Berlin haben wir Eren Önsöz getroffen und mit ihr über die Dokumentation und aktuelle Ereignisse in der Türkei gesprochen.MAVIBLAU: Professor İzzet Furgaç, Koordinator an der Türk Alman Üniversitesi in Istanbul, hat im Interview mit uns gesagt: „Wenn wir die Geschwindigkeit und Flexibilität der Türkei mit der Planung und Organisation von Deutschland kombinieren, sind wir unschlagbar.“ Warum hat sich Mustafa Kemal Atatürk damals bereit erklärt, so viele deutsche Wissenschaftler aufzunehmen?
Eren Önsöz: Er brauchte die Besten, die er kriegen konnte. Und es war ein Zufall der Geschichte, fast ein Glücksfall, dass zu der Zeit in Nazideutschland diese Wissenschaftler auf die Straße gesetzt worden sind. Wahrscheinlich hätte er auch aus anderen Ländern Professoren ins Land holen können, aber als sich ihm diese Gelegenheit bot, hat er zugegriffen. Dass es eine politische Komponente hatte, dass er jüdische Wissenschaftler berief, erkennt man daran, dass er ihnen die höchsten Posten angeboten hat, obwohl er von ihrer Situation wusste. Er hat zu der Zeit ja Tabularasa gemacht und Staat und Religion getrennt. Dazu brauchte er auch neue frische Geister. Und die hat er in Europa, im Westen gesucht, Geister, die säkulär, modern und demokratisch gesinnt waren. Er wusste, dass er diese Reform nicht mit türkischen Wissenschaftlern der alten Stunde gestalten konnte. In der Türkei kamen dann die Juden, die Reichsdeutschen und die Antifaschisten auf einem kleinen Fleck zusammen. Und durch Atatürks kluges Taktieren ist das geglückt.
Inwieweit wurde Atatürk dafür von den deutschen Nazis denn kritisiert?
Man hat vieles versucht und immer wieder Druck ausgeübt. 1938 kam ein sogenannter Ministerialrat namens Scurla ins Land und besuchte die türkischen Universitäten. Wie ein Agent hat Scurla damals versucht, die Türken dazu zu bewegen, auch reichsdeutsche Professoren einzustellen. Aber da haben die Türken gesagt: Nein, wir lassen uns da nicht reinreden. Diese Wissenschaftler standen unter dem Schutz der Türkei.
“Heimat ist da, wo ich sagen kann, was ich denke.”
Nach dem Putschversuch in der Türkei haben einige Türk*innen mit Diplomatenpässen Asyl in Deutschland beantragt. Anfang dieser Woche wurde vom Innenministerium veröffentlicht, dass sich deshalb bislang schon 35 Personen beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) gemeldet hätten. Was denkst du, wenn du mit deinem Film tourst und dann so etwas liest?
Es ist paradox. Ich bin natürlich sehr traurig über die Situation in der Türkei. Freunde von mir in der Türkei haben gesagt, sie können nun nur noch ins Ausland. Jedoch sagen sie auch ganz klar: In Europa wächst der Faschismus. Sie haben auch Angst, hierher zu gehen. So einfach ist die Lage also eben nicht. Das finde ich das Interessante an dem Film, er hat sehr viele Facetten: Die geschichtliche Thematik, die Situation heute und auch das Thema Bildung.
Die deutschen Wissenschaftler und Intellektuellen mussten damals ihre Heimat verlassen, nun sind es türkische Diplomaten. Du hast deinem Film den Namen „Haymatloz“ gegeben. Was bedeutet Heimat für dich?
Heimat ist für mich da, wo ich Freunde und Familie habe. Wo ich die Sprache spreche. Mich aufgehoben fühle. Und sagen kann, was ich denke. Und deshalb ist auch Deutschland meine Heimat, weil ich mich hier wohl fühle und Dinge aussprechen kann, ohne Angst zu haben. Ich kann eine Arbeit wie diese fertig stellen, ohne drangsaliert zu werden. Allerdings sehe ich mich als Weltenbürgerin und bin nicht auf ein Land fixiert, ich bin gerne in verschiedenen Kulturen zu Hause.
Dein Film kommt zudem in einer Zeit, in der die deutsch-türkischen Beziehungen sehr angespannt sind, und zeigt einen großartigen Teil dieser Beziehung. Dieser Teil liegt nun schon Jahrzehnte zurück. Siehst du die Möglichkeit, in der Zukunft weitere solcher positiven Beispiele für internationale Verständigung zu erleben?
Ja, zum Beispiel durch das Erasmus-Programm. Denn plötzlich kommen junge Leute aus Europa in die Türkei und merken, wie wunderschön es dort ist. Letztens sprach mich eine junge Frau in Spanien an: „Sprecht ihr Türkisch?“ Und sie war fasziniert von uns. Erasmus hat den Blick der jungen Generation auf dieses Land sehr geändert und das hätte man schon früher betreiben können. Genauso wie Schüleraustausch. Und damit kommt man endlich weg von all den Reduktionen auf die Gastarbeiter.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk hast du gesagt, dass du stolz bist auf dieses Kapitel der Türkei. Wird dein Film denn auch dort gezeigt werden?
Das wird er hoffentlich. Zwar ist es momentan eine verworrene Situation, Festivals wurden schon kurzfristig abgesagt. Aber auch in der Türkei ist ein großes Interesse da.
Auf dem Titelbild ist Alfred Heilbronn im Kreise seiner Mitarbeiter*innen im Botanischen Institut Istanbuls zu sehen.
Die Filmkritik von MAVIBLAU findet ihr hier.
Interview: Laurenz Schreiner
Foto: Rebecca Meier, Mindjazz Pictures