“Berlin ist, wenn alles total durchdacht und aufbereitet ist, es aber aussieht wie gerade hingeklatscht”, sagt Çetin und lässt seinen Blick über die zusammengezimmerten Sitzreihen und Barverschläge des Klunkerkranichs schweifen. Wir sitzen über den Dächern Berlins, hinten glitzert der Alex wie eine müde Discokugel in der Sonne und an den Biertischen um uns herum machen es sich Lang- und Kurzzeit-Berliner bequem. Çetin lebt schon seit 1995 hier und liebt die Stadt. “Ist ein bisschen wie Istanbul”, sagt er. “Es gibt unterschiedliche Viertel und du kannst dir das aussuchen, was am besten zu dir passt.” Sein Viertel ist mit Sicherheit Neukölln.
Çetin Şahin ist Sozialpädagoge und DJ. Vor drei Jahren gründete er gemeinsam mit Freunden den Verein “Techno Türken e.V.” und versorgt mit anderen musikmachenden Menschen Berlin, Hamburg, Paris und Istanbul mit Elektro vom Feinsten. Techno Türken, das ist ein Leidenschaftsprojekt, erzählt er. Eins von der Sorte, bei dem das Herz richtig doll schlägt. Und gleichzeitig eine Möglichkeit, mit dem Türkenbegriff in der DJ-Szene ein bisschen zu provozieren und ihn neu zu besetzen. Provozieren insofern, als dass “Türke” einfach auch nur gut gemachter Elektro mit Rakı in der Hand meinen kann, und nicht bedeuten muss, dass die ganze Nacht Arabesk den Takt vorgibt. Das Konzept hat Erfolg. Beim Gig am 1. Mai diesen Jahres strömten über 12 000 Menschen zur Bühne der Techno Türken und am Christopher Street Day wurde der stundenlange Platzregen von einem starken Publikum zu guter Mucke vom DJ-Pult einfach weggetanzt.
Musikalische Anfänge und ein Dorf in Bayern
Die ersten Platten legte Çetin in Istanbul auf, in der Stadt, in der er aufwuchs. Während seines Germanistik-Studiums arbeitete er im “Ceneviz Kahvesi” in Ortaköy und übernahm gern mal abends die Musik, wenn die Leute in die Bars strömten. “Hier war das dann eher Soul und Funk und Lieder der 70er und 80er. Das hat man damals gehört.” Das Leben in Istanbul machte ihm Spaß, es waren einige der besten Jahre seines Lebens, sagt er. Doch irgendwie zog es ihn nach Deutschland. Vielleicht, weil sein Vater in den 60ern als einer der ersten Gastarbeiter nach Deutschland ging. Seine Mutter folgte ihm und Çetin blieb in Istanbul, umsorgt von Schwester, Tanten und Onkeln. Die Eltern kamen dann immer zu Besuch. “Das war wie ein Treffen zwischen Fremden.”
Doch irgendwie war da doch eine Neugier zu dem Land, in dem seine Eltern lebten. 1993 zog er dann rüber. Erst nach Rosenheim – ein kleines bayerisches Dorf mit einer Kreuzung und einer Kirche, sonst war da nichts. “Wenn du am Freitag da auf der Straße tot umfällst, dann wirst du auch erst Montag gefunden. Außer es ist direkt vor der Kirche”, erzählt Çetin und lacht. Eine riesige Umstellung war das, nach den Jahren an der pulsierenden Stadt am Bosporus.
Musik und Sozialpädagogik
Zwei Jahre später hielt Çetin die Einöde nicht mehr aus und machte sich auf in die deutsche Hauptstadt. Dort studierte er erst Turkologie, brach dann aber ab. “Das war mir zu viel Klischee, da stand in der Ecke ernsthaft ein Teekocher und zu Vorlesungsbeginn gab es erstmal Çay für alle.” Danach dann Sozialpädagogik und das machte ihm Spaß. Da hatte er das Gefühl, richtig anpacken zu können. Denn das, was er tat, zeigte Wirkung. Und diese Begeisterung, etwas bewirken zu können, hat er auch heute noch. Çetin hilft Migrant*innen beim Ankommen in Deutschland. Ob Behördengänge oder Erklären, wie das deutsche System funktioniert. “Letztens ging es darum, ob eine Familie ihre Wohnung behalten könne. Wären wir da nicht dran gewesen, säßen die jetzt auf der Straße”, erzählt er.
Doch auch die Musik blieb immer Teil seines Lebens, als freundliche Begleiterscheinung, die sich immer wieder durch Zufall ergab. Erst sprang ein DJ in Çetins Stammcafé kurz vor Silvester ab und er legte stattdessen auf, dann kamen immer mehr Gigs dazu und irgendwann füllte er die Nächte im SO36 mit Musik. Thematisch oft ans Ethnische geknüpft.
Irgendwann fand ich das zu einschränkend. Ich wollte auch Musik machen, ohne dass es immer arabische, türkische oder Balkan-Sounds sein mussten.”
So entwickelte sich schleichend die Idee der Techno Türken. Mucke, die nicht notwendigerweise ethno war, sondern alles sein konnte. Der Name dafür aber doch sehr “türkisch” – das war gewollt. “Es gibt doch Begriffe, die werden von außen mit Assoziationen belegt – in diesem Fall vielen negativen Assoziationen. Aber wenn man sie sich zu eigen macht und neu und anders verwendet, dann kann man Negatives vielleicht auch zu etwas Positivem machen.” Die Techno Türken vertreten damit keine politische Haltung und sind auch keinesfalls nationalistisch aufzufassen. “Mir ist es doch egal, aus welchem Land jemand kommt”, sagt Çetin. “Die Grenzen sieht man aus dem All nicht.”
In den Köpfen der Menschen sammeln sie sich allerdings schon. Es war nicht sehr einfach, den Namen zu verkaufen. Für den ersten Auftritt wurde fast kein Raum gefunden, weil das Gegenüber nicht wusste, was zu erwarten war. Doch das Konzept ist schließlich aufgegangen: Inzwischen ist der Name Türöffner für junge DJs, die Techno Türken ins Portfolio aufnimmt. “Gerade das gefällt mir so an unserer Arbeit. Dass wir damit eine Plattform bieten können, mit deren Hilfe andere sich einen Namen machen.”
Rakı’n Roll
Dieser Name verkauft sich nicht nur gut innerhalb Deutschlands, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus. Hat ein wenig was Exotisches, findet Çetin, und ist gleichzeitig aus Berlin, der Hochburg des Elektro. Doch was macht die Techno Türken aus? Die Musiker, die ins Sortiment aufgenommen werden, schicken den drei Hauptorganisatoren Çetin Sahin, Fevzi Tuncer und Sencer Seymen Samples, worauf ein entspanntes gemeinsames Gespräch folgt. Denn die Chemie muss stimmen. Und bei Partys können bestimmte Leute aus der Gruppe gebucht werden oder die Techno Türken an sich. Hier steht aber niemand allein im Vordergrund, sondern die Gruppe selbst, sagt Çetin.
Und dann gibt es noch die unter Fans berühmten Meze-Essen vor den Partys. Zwei Stunden vor Beginn werden die Biertische ausgeklappt, alle, die Lust haben, kommen vorbei und bringen selbst Essen mit, während im Hintergrund türkische Musik aus den 70ern und 80ern läuft. Dazu fließt ordentlich Rakı und es werden Freundschaften geschlossen. Lustig geht es da wohl immer zu, besonders, wenn Neuankömmlinge nicht unbedingt etwas mit dem Konzept Meze anfangen können.
Das witzigste Essen, was jemand mal mitgebracht hat, war ‘ne Portion Pommes und Burger von McDonald’s”, erzählt Çetin, “das werd ich nie vergessen!”
Aktuell sind die Partys größer und die Meze-Tradition ist unterwegs größtenteils abgelegt worden. Kein Grund zum Traurigsein, findet Çetin. Auch deshalb liebt er Berlin. Die Stadt erfindet sich immer neu und mit ihr die, die in ihr leben. Und der Rakı ist natürlich geblieben.
Text: Marie Hartlieb
Fotografie: Sabrina Raap