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Solingen, das ist ein Ort…

Eine Erzählung zum 29.05.1993

27 Jahre sind seit dem Brandanschlag in Solingen vergangen. In einer fiktionalisierten Erzählung begibt sich Fatma Sağır zurück an diesen Tag, den 29. Mai 1993, an dem fünf Menschen ermordert wurden. Sie  führt uns die Bilder des Terrors und den Schmerz vor Augen und fragt: Wie lange wird unsere Gesellschaft erinnern?

Hausgiebel. Schwarz. Balken greifen nach der Nacht. Finsternis überall.

Vier Fenster oben. Vier Fenster unten. Hohl. Ein Haus in Solingen. Solingen.

„Kennen Sie Solingen?“ Mölln und Solingen? Sie hat bereits angesetzt, um die Antwort an die Tafel zu schreiben. Zwanzig Augenpaare starren sie unverwandt an. Sie wartet. Jemand aus der hinteren Reihe murmelt: „Messer. Da kommen doch Messer her, oder? Aufatmen, nicken. Sie senkt ihre Hand, dreht sich zur Klasse, geht zu ihrem Pult, setzt sich und legt die Kreide auf den Tisch. Als sie ihren Blick hebt, guckt sie in fragende Gesichter. Ja, Messer, das… ist…richtig. Sie stockt. Ein Lächeln missglückt ihr. An Messer habe ich gerade nicht gedacht. Solingen, das ist ein Ort…

Als sich die Nachricht verbreitete, war Wochenende. Samstag der 29. Mai 1993. Es war ein warmer Frühlingstag. Sie war achtzehn Jahre alt. Gerade geworden. Heute war einmal keine Schule. Die Geschwister schliefen noch alle. Sie schlich sich aus dem gemeinsamen Kinderzimmer, um sich aus der Küche ein Glas Milch zu holen. Sie freute sich auf ihr Buch, in das sie eintauchen würde. Die Stille genießen, bevor alle aufwachen und herumwuseln würden. Sie liebte diesen morgendlichen Frieden. Aus dem Küchenfenster konnte sie auf die Pferdekoppel des angrenzenden Gutshofs gucken. So früh waren noch keine Pferde zu sehen. Sie nahm sich die Milch aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und schlug ihr Buch an der Stelle auf, wo sie es am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Ihre Eltern waren verreist. Zur Pilgerfahrt nach Mekka. Ab und zu guckte die Nachbarin vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Die Pilgerfahrt endete mit dem Opferfest, das in drei Tagen beginnen würde. Dann würden die Eltern zurückkehren. In der kleinen Küche hörte man nur das Ticken der Uhr und von Zeit zu Zeit das Rascheln der Seiten, wenn sie umblätterte. Ein Klopfen holte sie aus ihrer Versenkung. Tak. Tak. Tak. Das Klopfen wurde immer schneller und lauter. Rasch legte sie das Buch mit der aufgeklappten Seite auf den Tisch und eilte zur Tür. Wer konnte das sein? Bloß niemanden wecken. Sie brauchte diese Ruhe. Es war ihre Zeit. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und guckte durch den Spion. Tante Meryem! Was machte die denn um diese Zeit vor der Tür? War etwas geschehen? Mit den Eltern? Sie öffnete die Tür. Tante Meryem hatte sich offenbar eilig ihr Kopftuch umgebunden und war herübergelaufen. Besorgte Augen blickten sie panisch an. „Tante Meryem! Du bist ja ganz blass. Guten Morgen, komm herein. Ist alles in Ordnung?“

Die alte Dame betrat die nachtwarme Wohnung. Zog sich die Schuhe aus und glitt leise in die Küche.

Sie setzte sich an den Tisch. Soll ich dir einen Tee machen? Ist alles in Ordnung? Sind es die Eltern?

Auf der Stirn der Nachbarin standen Schweißperlen. Sie starrte auf die Tischplatte.  Eine Gebetskette rann durch ihre Finger. Ihre Lippen bewegten sich still und unablässig. Etwas Entsetzliches musste geschehen sein. Tante Meryem betete.

“Was ist denn?”, flüsterte das Mädchen, “Mama? Papa? Ist etwas passiert?” In Mekka hatte es schon furchtbare Unfälle gegeben. Sie legte eine Hand auf die Gebetskette und unterbrach Tante Meryem.  Die Nachbarin hob ihren Kopf. Sie rang um Fassung. Dann sagte sie: “Sie haben uns verbrannt! Vay, vay. Sie haben uns verbrannt! In ihrem Blick lag etwas, das das Mädchen noch nie zuvor gesehen hatte. Panik. Angst. Entsetzen. Ratlos rief sie: “Wer? Wen? Wer hat wen verbrannt?”

Die alte Dame schaukelte ihren Körper vor und zurück: “Uns, ya Allah, uns haben sie angezündet. Frauen und Kinder. Jahrzehnte in ihren Fabriken geschuftet. Und jetzt das. Sie haben uns angezündet. Wir sind verbrannt. Wie Brennholz. Lichterloh haben wir gebrannt. Lichterloh. Ya, Allah. Was sollen wir tun?”

Das Mädchen war ratlos. Hatte die Tante schlecht geträumt? Sie öffnete den Schrank. Ein Glas Wasser würde die Frau beruhigen. Plötzlich durchfuhr es sie. Ihr Arm hing in der Luft. Halb zwischen Schranktür und Gläsern.

„Haben die Nazis einen Brandanschlag verübt?“ Ihre Stimme wackelte nur ein wenig. Jetzt bloß nicht weinen.

Das Schluchzen der Nachbarin war ihr Antwort genug. „Mein Kind, bitte passt auf. Geht nicht hinaus. Bleibt im Haus. Verhaltet euch ruhig. Sprich mit deinen Geschwistern.“

Sie schob den Stuhl langsam zurück. Mein Kind. Was für Tage. Was für eine Zeit. Wer schützt uns?

Dann verließ sie die Wohnung.

Das Mädchen starrte auf die Haustür, aus der die Nachbarin schweren Schrittes hinausgegangen war. Auf die Tür, an der es geklopft hatte. Alles drehte sich. Tak. Tak. Tak. Die Uhr. Die Uhr tickte. Tick. Tick. Tick. Tak. Tak. Tak. Ihr Blick wanderte zum Küchentisch. Noch lag ihr Buch da. Das Glas Milch unberührt. Ihr Stuhl schräg zurückgeschoben. Sie spürte den Teppich unter ihren nackten Füßen. Kälte kroch an ihren Beinen hoch. Das Blümchenmuster ihres Pyjamas zitterte seltsam. Sie machte einen Schritt zum Küchenfenster. Die Pferde waren nun auf der Koppel. Die Hauptstraße immer noch leer. Sie lehnte ihre Stirn an das kalte Fenster. Es hatte an der Tür geklopft. Heute morgen. Hatte es an der Tür geklopft. Es hatte gebrannt. Feuer. Giebel. Fachwerk. Fahne. Fahnen. Fahnen. Ruß. Ruß. Ruß. Flammen. Flammen. Flammen. Fünf Frauen und Mädchen waren verbrannt.

In ihrem Inneren verrutschte alles. Wohin? Wohin? Wohin soll ich gehen? Wo? Wo sollen wir bleiben? Warum, warum, warum? Ihr Kopf wurde ihr schwer. Sie drehte sich weg vom Fenster und setzte sich langsam wieder an den Tisch. Nahm ihr Buch. Legte es weg. Stand auf und schaltete das Radio ein. Das Grauen begann sich zu zeigen und ergoss sich über sie.

Wie sollte sie das erklären? Wie den Kindern erklären? Wohin konnten sie gehen? Montag mussten sie doch zur Schule. Ob die Eltern es wohl wussten? Ihre Gedanken waren nicht mehr zu bändigen. Etwas Schwarzes breitete sich in ihrem Inneren aus. Oh Gott! Wohin sollten sie gehen?

Die folgenden Tage waren traurig und schwer. Am Montag waren sie dann alle zur Schule gegangen. Das Mädchen hatte mit ihrer Schwester ein Plakat gemalt. Mit einem Spruch über dreißig Jahre Döner und nun das, oder so etwas. Sie hatte sich das Plakat über ihren Mantel gehängt und war damit zur Schule gegangen. In der Schule hatte sie sich auf ihren Platz gesetzt. Wortlos hatte sie ihren Kopf auf den Tisch gelegt und still geweint. Die Anderen hatten betroffen geschwiegen. Jemand hatte irgendwann einen Arm um sie gelegt. Warm lag er auf ihrem Rücken, während sie schluchzte. Das Opferfest hatten sie bei Tante Meryem verbracht. Die kleinen Kinder spielten unbefangen. Die Erwachsenen flüsterten, seufzten schwer und warfen sich besorgte Blicke zu.

Sie hatte in den Nachrichten gesehen, dass die Toten in die Türkei geflogen worden waren. Aus dem Bauch des Flugzeugs rutschte ein Sarg nach dem anderen heraus. Drei große. Zwei kleine. Umhüllt in türkische Fahnen. Fünf rote Kisten. Der Bundeskanzler wollte der Beerdigung nicht beiwohnen. Er fuhr nicht in das Dorf, in dem die Frauen und Kinder begraben wurden. In den Tagen danach, die von Schulbesuchen, der Rückkehr der Eltern und dem Beginn des Sommers erfüllt waren, vergaß das Mädchen nicht. Nicht die Fahnen. Die Giebel. Das ausgebrannte Dach. Wie eine Klaue in den Himmel hinausragend. Nicht das Schweigen der Anderen. Nicht die Weigerung des Kanzlers.

Das Mädchen beendete die Schule. Sie studierte. Ihre Anstellung als Lehrerin trat sie schon bald an. Sie vergaß nicht. Sie hatte nicht vergessen.

Solingen, sagte sie, zur Klasse gewandt, ist ein Ort. Dort stand einmal ein Haus…

Text und Illustration: Fatma Sağır

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Rough und gleichzeitig verletzlich