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Von einer Hotline für besorgte Bürger, kulturellen Brillen und Verständigung

Auf einen Çay mit Ali Can

Bei spätsommerlichem Sonnenschein kommt mir Ali Can mit Kaffee in der Hand und Musik auf den Ohren entgegen. „Hab’ eine kleine Pause gebraucht nach dem letzten Interview“, sagt er und öffnet mir die Tür zu seiner derzeitigen Airbnb-Wohnung im Herzen Kreuzbergs. Interviewtermine gehören für den 23-jährigen seit der Veröffentlichung seines Buches „Hotline für besorgte Bürger“ zum Alltag. Dass sein Leben als selbsternannter „Migrant des Vertrauens“ mittlerweile selbst in internationalen Medien wie BBC und Al Jazeera Aufmerksamkeit bekommt, scheint der Gießener Student aber selbst noch nicht recht begreifen zu können.

Gewissermaßen fing für ihn auch alles mit Medienberichten an: mit Medienberichten über Flüchtende, die über die Balkanroute kommen, mit Bildern aus der Kölner Silvesternacht und der darauf folgenden Welle der Empörung. Eine Szene aus der Berichterstattung bleibt Ali besonders im Gedächtnis: Ein Video, das zeigt, wie in Clausnitz mit dem Bus ankommende Geflüchtete, Frauen und Kinder von Anwohnern beschimpft werden. „Bei den Bildern aus Clausnitz habe ich sogar geweint. Dieser kleine Junge, der sich verstört an seine Mutter geklammert hat, das hätte ich sein können“, erzählt er. Denn auch Ali kam 1995 als Kind mit seinen Eltern auf der Suche nach Asyl aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland. „Bei diesen Bildern, da wollte ich wissen, woher dieser Hass kommt.“
Ali Can, MAVIBLAU, Interview 2

„Jeder Mensch hat Vorurteile“

Kurzerhand macht er sich also auf den Weg nach Ostdeutschland, um den „Wutbürger“ und seine Intention zu begreifen. Auf Pegida-Demonstrationen sucht Ali das Gespräch mit jenen Menschen, die ihn möglicherweise bereits aufgrund seines Aussehens kritisch beäugen. Und macht eine unerwartete Erfahrung:

„Auf dieser Reise habe ich gemerkt, dass ich selber viele Vorurteile habe. Dass ich durch die Berichte aus Bautzen, Clausnitz und Freital ein pauschales Bild von Ostdeutschland hatte. Bei mir hat es plötzlich Klick gemacht und ich habe gemerkt: Jeder Mensch hat Vorurteile.“

So wird ihm auch bewusst, dass den Menschen, die dort demonstrieren, ein Raum fehlt, in dem sie nicht direkt als Nazi abgestempelt werden. „Ich habe gemerkt, dass hinter der Parole meist komplexe Motive stecken. Dass nicht jeder, der dort mitläuft ein Rassist ist, sondern die Gruppe sehr heterogen ist.“

Deshalb gründet Ali 2016 eine „Hotline für besorgte Bürger“. Mittwochs und donnerstags von 18 bis 20 Uhr können Menschen bei ihm anrufen und über ihre Sorgen und Fragen bezüglich Zuwanderung, Islam und Kultur mit ihm sprechen. Er versucht, ihnen mit Empathie zu begegnen und Vorurteile und Ängste aufzubrechen. Nicht immer sind es Pegida- oder AfD-Anhänger, mit denen er spricht – häufig bitten ihn auch ehrenamtliche Helfer um interkulturellen Rat.

Aber wird mit einer solchen Hotline rechtes Gedankengut nicht umso salonfähiger? Nach kurzem Überlegen sagt Ali sehr bestimmt: „Was ist denn die Alternative? Sonst können sie nur bei Plattformen wie Pegida darüber reden, wo ihre Ängste instrumentalisiert werden.“ Demokratie müsse auch den Diskurs über strittige Themen zulassen, sagt er.

Ali Can, MAVIBLAU, Interview

Sensibilisieren für die „kulturelle Brille“

Denn dass der Zuzug von Flüchtenden für die Bevölkerung Ängste mit sich bringt, findet er nachvollziehbar. „Jede Veränderung birgt Angst“, meint er, „wenn man mit einem fremdkulturellen Hintergrund in eine neue soziale Ordnung kommt und einige Regeln nicht kennt, dann irritiert man die Leute.“ Dann müssen Berührungsängste abgebaut werden, so seine Devise. Deswegen gibt Ali neben seiner Hotline sowohl Deutschen als auch Zugewanderten interkulturelles Training. „Wenn fremde Menschen aufeinander treffen, dann arbeiten wir mit Schubladen. Ich möchte die Menschen dafür sensibilisieren, dass sie eine „kulturelle Brille“ haben und alles nur anhand ihres eigenen Erfahrungshorizontes bewerten.“

Die Verhärtung der Fronten, die Zunahme von Pauschalisierungen und Gehässigkeit erfüllen Ali mit Sorge: „Im heutigen Diskurs reden wir ja nur noch von Gutmenschen und Rassisten. Ich möchte dieses Schwarz-Weiß-Denken aufbrechen.“ Statt Schwarz-Weiß-Denkens plädiert Ali für die Betrachtung der Grautöne und des Menschen an sich. In seinem Buch „Hotline für besorgte Bürger“ gibt er daher einige exemplarische Gespräche wieder und lässt diese für sich sprechen.

Zivilbevölkerung braucht Dialog

Auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Türkei sieht Ali wie auf beiden Seiten die Vorurteile wachsen. „Auch da werden Leute in eine Ecke gestellt. Nicht jeder, der im Referendum mit Ja gestimmt hat, ist jemand, der den national-islamischen Kurs von Erdogan unbedingt vollständig unterstützt.“ Was er im Umgang mit Pediga gelernt habe, sei, dass es nichts bringt, Menschen mit erhobenem Zeigefinger zu begegnen. Das sei sicher auf Diplomatie übertragbar: Dialog müsse immer auf Augenhöhe stattfinden. Und auch von der Zivilbevölkerung wünscht Ali sich, dass Leute mehr aufeinander zugehen. „Vielleicht muss man auch erstmal mit einem ‚AKPler des Vertrauens‘ ins Gespräch kommen und versuchen, seine Motive zu verstehen“, sagt er überzeugt.

Letztendlich nimmt sich Ali für die menschlichen Begegnungen und gesellschaftlichen Konfliktfelder die Worte seines Idols Albert Schweitzer zu Herzen: „Jeder Mensch geht uns als Mensch etwas an.“ Sein Weltbild, das könne man sich ja erst einmal selbst aussuchen – ganz Linke und ganz Rechte, das gehöre zu einer Demokratie dazu. Was dann getan werden müsse, ist für ihn aber klar: für mehr Verständigung sorgen.

Text: Marlene Resch
Fotos: Simon Feyrer, Bastei Lübbe (1)

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