„Vielleicht sollte ich nach Istanbul umziehen“ist der erste Satz des Istanbul gewidmeten Bandes „Istanbul – heute“ von der Literaturzeitschrift die horen. Vielleicht ist das der schönste Satz, den man über Istanbul schreiben kann. Denn er meint ja eigentlich dies: Ich möchte Istanbul zu meinem Lebensmittelpunkt machen, jeden Morgen in Istanbul aufstehen und jeden Abend in Istanbul einschlafen, Freunde finden, mich verlieben, entlieben. Ich möchte in Istanbul feiern, verkatert morgens in die Sonne blinzeln, Schmerzen haben, Ärzte aufsuchen, mich fürchten. Ich möchte mich in Istanbul ärgern, über den Müll in der Straße, den Verkehr, darüber, dass mir Freunde sagen, sie rufen mich gleich zurück und sich erst einige Tage später melden. Ich möchte in Istanbul morgens zum Bäcker gehen, in Supermärkten an der Kasse stehen, auf einer schaukelnden Fähre çay trinken und und und….
Es ist lange her, als ich die Erwägung „vielleicht sollte ich nach Istanbul umziehen“ mit „das mach ich jetzt einfach!“ wahr gemacht habe. Im Nachhinein betrachtet, war mein Leben in Istanbul eine kurzweilige Annäherung an die Stadt, der sich die Autor*innen in der 278. Ausgabe der Literaturzeitschrift „in flüchtiger Berührung“ widmen. Die horen erscheint vier Mal im Jahr als offener Band oder als thematische Anthologie. Der Name der Zeitschrift rekurriert auf Schillers 1795 erstmalig und dann für drei Jahre erschienene Zeitschrift „Die Horen“. 1955 wurde die horen in Hannover gegründet und in den folgenden Jahren bis heute von fünf unterschiedlichen Herausgebern betreut.
Die Texte für „Istanbul- heute“ sind von Autoren und Autorinnen entstanden, die für mehr oder weniger Zeit durch Istanbul gestreift sind. Die horen besticht mit Namen, die in der Literaturszene, auch in der jungen, sehr bekannt sind. Autor*innen wie Dincer Gücyeter, Gerrit Wustmann, Lütfiye Güzel, Özlem Özgül Dündar, Selim Özdoğan, Nadire Y. Biskin folgen den Klassikern von Orhan Veli, Nazim Hikmet und Cahit Külebi. Sie alle widmen sich der Stadt mal in Form der Lyrik, mal in Prosa und manchmal in Form von Essays. Sie geben diese Momentausschnitte in einem abwechslungsreichen und originellem Ton wieder. Kein Text wiederholt sich inhaltlich oder ähnelt einem anderen in dieser Anthologie. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Umgestaltungsprozesse der Stadt. Der topografische Wandel wird auf seinen ideologisch religiösen Hintergrund hinterfragt.
Safiye Can schreibt eingangs, dass die drei klassisch ausgewählten Gedichte von Orhan Veli, Nazim Hikmet und Cahit Külebi an Aktualität nichts verloren haben. Istanbul hat in literarischen Betrachtungen immer schon einem Wandel unterlegen und vielleicht auch schon immer unter politischem Wandel gelitten. Jüngst ist es die Hagia Sophia, die unter der derzeitigen Regierung wieder vom Museum in eine Moschee umfunktioniert werden soll und somit zum Symbol für politische Differenzen und Kämpfe wird. Orhan Esen nähert sich in die horen der raumpolitischen Konkurrenz um Istanbul zwischen der frühen türkischen Republik und dem Neuosmanischen Staat in seinem sehr lesenswerten Essay.
Neben Lyrik, Prosa und Essays gibt es auch einige Bildstrecken, wobei eine, meiner Meinung nach, eine nie dagewesene Sicht auf Istanbul sehr eindrucksvoll offenbart. Die Bilderreihe „Istanbul-without-Istanbul“ von Jochen Proehl macht alles unsichtbar, was in „alle(r) Zeit der Welt“ von nur begrenzter Dauer ist. Menschen, Häuser, Straßen und Vegetation sind auf den Erdplatten, für die Proehl große tektonische Modelle in Kiesgruben genutzt hat, nicht mehr sichtbar. Auf den Bildern sieht man das Istanbul, das man sonst nur dann spürt, wenn sich die Erdplatten unter den Füßen der 16 Millionen Einwohnern so unauffällig bewegen, dass die Bewegung einem Angst vor einem Erdbeben einjagt und man sich gleichzeitig fragt, ob man sich die Bewegung bloß eingebildet hat.
Als ich die Bilder gesehen habe, wusste ich endlich, dass ich mir die Bewegungen des Erdbodens nicht eingebildet habe. Dass die Erdplatten unter Istanbul sehr lebendig sind. Dass Istanbul lebendig ist. Und auch ohne uns hat Istanbul etwas magisches. Dieser Ort braucht uns Menschen nicht, seinen Zauber erhält er durch seine geografische Lage allein.
Die horen lässt uns zurück mit einem Traum, den Zehra Cirak stellvertretend für uns alle aufgeschrieben hat. Sie träumt davon in Berlin Schöneberg in die U- Bahn zu steigen und einige Stationen später in Istanbul auszusteigen. Ich denke, in allen Städten träumen wir davon. In Köln wurde sogar ein Lied darüber geschrieben. Wie viele Liebeserklärungen an Istanbul später wird das vielleicht möglich sein? In einer U-Bahn mit Lichtgeschwindigkeit durch einen unterirdischen Tunnel zu heizen und wenige Stationen später in Istanbul auszusteigen. Wer weiß, vielleicht in 500 Jahren?
„Istanbul – heute“ ist eine facettenreiche, künstlerische Auseinandersetzung mit Istanbul. Das einzige, was ich mir noch gewünscht hätte, wäre ein literarisch internationaler Blick auf Istanbul. Rein aus der Neugierde, wie Lyrik und Prosa über Istanbul in anderen, mir unbekannten Sprachen klingen. Auf die Suche werde ich mich nun selbst begeben müssen.
Text und Bild: Carina Plinke