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Schritte, die Menschen bewegen. Auf einen Çay mit der Filmemacherin Eva Stotz

Mein erster Schritt auf das Grundstück der Kulturakademie in Tarabya transportiert mich in eine andere Welt: In dieser Oase der Stille angekommen zu sein, die, von hohen Steinmauern umgeben, mich von der Hektik „da draußen“ abschottet, lässt mich kurz stutzen, ob ich überhaupt noch in Istanbul bin (tatsächlich gilt die Kulturakademie als Teil des deutschen Botschaftsgeländes formal gesehen als exterritoriales Gebiet Deutschlands). Von den Künstlerwohnungen, die mich stark an eine deutsche Reihenhaussiedlung erinnern, läuft Eva über den frisch gemähten Rasen auf mich zu.

Eva Stotz ist Filmemacherin und seit November letzten Jahres als Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Auf einem kleinen Spaziergang über das Gelände erzählt sie mir von Katzenbabys und Türkischkursen und wie sie zwei Tage vorher einen kurzen befremdlichen Blickaustausch mit ihrem Nachbar (komşu), nämlich dem Staatspräsidenten Erdoğan höchstpersönlich, erlebte. Dann schieben wir die Teakholz-Gartenmöbel auf das letzte Fleckchen Sonne im Garten und ich bekomme çay eingeschenkt.

2I6A5535  Schritte dokumentieren

Ein paar Tage zuvor hatte ich mir die Performance, die während Evas Zeit in Istanbul entstand, im Pera Museum angeschaut. In Moments of Movement setzt sich die Filmemacherin mit der einfachsten Form von Bewegung auseinander, nämlich dem Schritt. Auf einer Leinwand werden mediale Bilder einer weltweiten Flüchtlingsbewegung collagiert mit Alltagsschritten, die in ihrer Banalität fast noch lauter hallen. Auf einer schmalen Bühne davor tritt immer wieder eine Figur auf, deren rhythmischer Stepptanz in einen Dialog mit der Bilderflut tritt. „Sie hat mit ihrem Tanz die Möglichkeit, Wut und Humor zu kommunizieren“, erklärt Eva ihre Faszination an der Stepptänzerin Marije Nie, mit der sie schon in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat.

Am Bühnenrand begleiten drei Musiker das Geschehen mit atmosphärischen Klängen, die pulsieren, fließen und wie Wellen übereinander brechen. Als ich gerade meine, die Elemente in meinem Kopf geordnet zu haben, stehen auf einmal eine Reihe von Menschen aus dem Zuschauerraum auf und bewegen sich, ihre Körper leicht schwankend, Richtung Bühne. Der Istanbul Mosaic Oriental Choir stimmt eine melancholische Melodie auf Arabisch an, sodass ich wieder von der Schwere der Thematik eingeholt werde und mein Fuß, der bis dahin zum Takt mit gewippt hatte, abrupt wieder auf den Boden sinkt.

Stotz

Der Schritt in die Türkei

Schon 2013 reiste Eva zusammen mit Marije nach Istanbul, um ein Filmprojekt über Bewegung im Raum zu realisieren. Was als ein Versuch begann, die Spuren der Gentrifizierung in der Stadt sichtbar zu machen und den Druck, unter welchem die Menschen stehen durch das Übersetzen in einen Takt rhythmisch erfahrbar zu machen, erlebte plötzlich mit dem Ausbruch der Gezi-Proteste im Mai 2013 eine starke politische Verdichtung. Mit One Million Steps, wollte Eva wie auch in ihren vorherigen Filmen „all diese Geschichten an der Wurzel packen“ und aufzeigen, dass Menschen weltweit um ihren Lebensraum kämpfen. Je persönlicher die Geschichten, umso nachvollziehbarer die Beweggründe. Noch immer ist Istanbul ein Knotenpunkt, eine Bühne, auf der die Choreografien unserer Suchbewegungen Gestalt annehmen. Als Eva durch das Residenzprogramm des Deutschen Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts dieses Jahr in die Stadt zurückkehrte, war ihr schnell klar, dass sie sich auch diesmal visuell, dokumentarisch mit einem gesellschaftlichen Phänomen durch die Herauslösung persönlicher Geschichten auseinandersetzen wollte.

Sie betont aber, dass sie bewusst nicht einen Film über Syrer*innen in Istanbul machen wollte, sondern diesen selbst eine Stimme geben wollte. So gab sie an der Bahçeşehir Universität einen Workshop mit dem Titel Focus on Steps, bei dem syrische Geflüchtete gemeinsam mit türkischen Studierenden Filme drehten, die auf den einen Schritt, der etwas verändert hat, hinein zoomen. Einige dieser Filme werden auch bei Moments of Movement gezeigt, in der Hoffnung damit „für ein Verständnis füreinander zu werben“. Letztendlich seien nämlich die Beweggründe, also was uns antreibt, sehr ähnlich.

Der eigene Fußabdruck

Während ich mich meinen çay schlürfend noch einmal umsehe, ist es mir wichtig, Evas eigene Position und Verantwortung zu thematisieren. Man kann nicht leugnen, dass ein vom Goethe-Institut finanziertes Residenzprogramm in einer Villa umgeben von dicken Steinmauern doch sehr starke Assoziationen zur Elfenbeinturm-Metaphorik hervorruft. Auch der Filmemacherin ist dies vollkommen bewusst: „Ich bin hier in einer Blase, aus der ich mich immer wieder raus bewegen muss. Ich möchte mit meiner Kunst schon politisch sein – immer. Ich bin einfach Filmemacherin und möchte mich mit der Gesellschaft auseinandersetzen, in der ich mich bewege. Und in der Türkei liegen die Konflikte so offen.“ Gleichzeitig sieht sie die Künstlerresidenz als Chance: für sich selbst, um sich künstlerisch auszuprobieren und Experimente zu wagen, aber vielmehr im Kontext einer Stärkung der deutsch-türkischen Beziehungen, indem die Kunst als Sprachrohr genutzt werden kann, um auf Problematiken hinzuweisen und Veränderung anzutreiben.

Es dämmert schon langsam, als ich den letzten Schluck çay nehme und mich von Eva verabschiede. Auch dem Sicherheitspersonal wünsche ich noch einen schönen Abend, laufe durch das schwere Eisentor, das sich knarrend hinter mir schließt, und dann stehe ich plötzlich wieder in Istanbul und schaue auf die altbekannte Kulisse des Bosphorus. Als ich mich langsam Richtung Dolmuş aufmache, lausche ich meinen eigenen Schritten auf dem Asphalt.

Text: Judith Blumberg
Bilder: SVIKV Pera Museum, Jane Katharina di Renzo
Redaktion: Jonas Wronna