Bekledim de Gelmedim, Tsantirimin Oustoune und Cakici… jeder begeisterter Kenner türkischer Musik wird die Titel dieser Songs wiedererkennen. Eine außergewöhnliche Sache haben alle drei Tracks gemeinsam: Sie wurden auf Griechisch gesungen und aufgenommen; von griechischen Künstler*innen. Bedenkt man die konfliktgezeichnete Beziehung zwischen der Türkei und Griechenland, scheint dies zuerst überraschend. Genau diese Konflikte aber sind es, die zur Entstehung der „türkische Musik“ in Griechenland beigetragen haben.
Diese Musik zeigt die sorgenvolle Geschichte zwischen den beiden Ländern in ihrer gesamten Komplexität und ihrem Zwiespalt. Fern ab von Gräueltaten und Hass war die Beziehung zwischen Griech*innen und Türk*innen sehr eng und von einer „bitteren Süße“ gezeichnet. Schauen wir uns die Geschichte der türkischen Songs und das Leben ihrer griechischen Interpreten genauer an, so wird klar, warum die Beziehungen zwischen den beiden so zwiespältig ist, und vor allem beides zugleich: bitter und süß.
Osmanische Kaffeemusik
Vor dem Fall des Osmanischen Reiches und der darauffolgenden Ausrufung der türkischen Republik gab es keine „griechische“ oder „türkische“ Musik; ethnische Definitionen von „griechisch“ und „türkisch“ waren eher verschwommen und ungenau.
Natürlich existierten verschiedene Genres in den unterschiedlichen Regionen des Osmanischen Reiches. In den großen urbanen Zentren aber interagierten die vielfältigen Kulturen fließend miteinander. Ebenso in der Musik. Musikologen betitelten die Strömungen, die vor allem in den großen Hafenstädten wie Izmir, Thessaloniki und Istanbul dominierten, als „Ottoman Cafe Music“. In Bars, Meyhanes, Coffeeshops (Cannabisprodukte waren im osmanischen Reich legal) und anderen Nachtclubs dieser drei Städte spielten Griech*innen gemeinsam mit jüdischen, armenischen und türkischen Musiker*innen. „Türkische“ Instrumente vermischten sich in der Musik mit „importierten“ Instrumenten wie der Gitarre, der Mandoline oder dem Akkordeon. Die Sprache, in der gesungen wurde, variierte stetig, genau wie das Repertoire der Künstler*innen. Viele dieser musikalischen Repertoires bewegten sich frei zwischen den Städten auf dem Balkan und dem östlichen Mittelmeer.
Der folgende Song ist ein großartiges Beispiel für diese osmanische Kaffeemusik. Ihr werdet das Lied vielleicht als Üsküdar’a giderken (als ich nach Üsküdar ging) wiedererkennen (Schaut euch Adela Peeva‘s Whose is this Song? für eine sehenswürdige Dokumentation über die Hintergründe dieses Songs an)
Ausgewanderte Musik
Diese kosmopolite musikalische Landschaft hat die vielen Kriege gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nicht überlebt. Aufeinanderfolgende Konflikte und die resultierenden Ströme an Geflüchteten, zusammen mit dem wachsenden Nationalismus unter den vielzähligen Minderheiten im Osmanischen Reich, erzeugten eine angespannte Atmosphäre. Als die griechische Armee 1919 in Anatolien einzog, erreichte das Misstrauen zwischen Türk*innen und Griech*innen ihren Höhepunkt. Hunderte und Tausende von Christen und Muslim*innen wurden in Folge der Zerstörung durch die griechische und türkische Armee umgesiedelt.
Nach drei Jahren bitteren Krieges wurde die griechische Armee geschlagen, die Kurs auf die andere Seite der Ägäis setzte. Viele Griech*innen, Türk*innen und andere anatolischen Völker waren plötzlich heimatlos. 1923 unterschrieben Mustafa Kemal Atatürk und Eleftherios Venizelos, der Repräsentant der griechischen Regierung, die Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Diese Konvention sollte auf eigentümliche Weise Teil der Friedensverhandlungen zwischen den beiden Ländern sein. Die Verhandlungsführer kamen zu dem Schluss, dass die religiösen Minderheiten in beiden Ländern den Frieden bedrohten. Um einen nachhaltigen Frieden zu gewährleisten, sollten diese Minderheiten ausgetauscht werden. Mehr als eine Million griechisch-orthodoxer Bürger der Türkei wurden nach Griechenland deportiert, und umgekehrt wurde ungefähr eine halbe Million Muslime, die in Griechenland lebten, in der Türkei angesiedelt. Dies sollte die ethnische und religiöse Substanz beider Länder festigen. Unter den Vertriebenen waren viele griechische Musiker*innen aus Istanbul und Izmir. Ihre neue Heimat sollte Griechenland werden.
Roza Eskenazi
Obwohl sie selbst keine Geflüchtete war, spielte ihre Musik eine wichtige Rolle unter den Gemeinden der Geflüchteten in Griechenland. Eskenazi wurde in einer griechisch sprechenden jüdischen Familie in Istanbul geboren, doch in ihrer Jugend zog sie nach Westthrakien (was zu dieser Zeit noch Teil des Osmanischen Reiches war). Ihr Talent wurde in einem kleinen Cafe entdeckt, als sie türkische Lieder sang. Eskenazi, begleitet von Agapios Tomboulis, einem griechisch-armenischen Oud-Spieler, nahm in den 30ern Hunderte von Platten auf.
In ihrem hohen Soprano, das so klingt, als schwebe es immer ein bisschen über der Melodie, nahm sie zahlreiche anatolische Lieder auf. Dies machte sie besonders in der geflüchteten Bevölkerung in Griechenland bekannt, die die Klänge aus der Heimat vermisste. Der folgende Song ist ein feuriger, tanzbarer Karsilamas, ein Volkstanz im 9/8 Takt – noch immer populär im griechischen als auch im türkischen Publikum.
Obwohl alle „neuen“ Griech*innen griechisch-orthodox waren, beherrschten sie oft nicht die griechische Sprache. Viele orthodoxe Einwohner*innen aus Anatolien sprachen Türkisch, manchmal Arabisch oder griechische Dialekte, die nicht mehr viel mit der Sprache in Griechenland zu tun hatten. In ihrem neuen Zuhause mussten sie sich also in einem fremden Land, mit fremden Gepflogenheiten und einer anderen Esskultur zurechtfinden. Sie lebten oft in sehr armen Verhältnissen. Griechenland war in den 20ern und 30ern vom Krieg erschöpft, und der Zustrom von mehr als einer Million Geflüchteter in eine Population von knapp über sechs Millionen sprengte die Mittel des Haushaltes. Die neuen Griechen waren von Seiten der „einheimnischen“ Griechen nicht immer willkommen. Aufgrund ihrer merkwürdigen Gewohnheiten und ihrer Sprache wurden sie oft als „Tourosporos“ oder „Samen der Türken“ genannt. Da ist es nicht überraschend, dass die Musik von Roza Eskenazi und die der anderen Künstler, die Songs aus Istanbul und Izmir spielten, das Heimweh der entwurzelten Anatolier linderten.
Das Osmanische Reich in den USA
Nicht alle Geflüchteten aus Anatolien verschlug es nach Griechenland. Bereits vor 1922 flohen viele vor den steigenden Spannungen und hofften auf ein besseres Leben in den USA. Marika Papagika war eine von ihnen. Zusammen mit ihrem Ehemann Kostas immigrierte sie 1915 in die Staaten und nahm dort zahlreiche Platten auf Türkisch und auf Griechisch auf. Papagika war aber nur eine der vielen Griech*innen, die in den Staaten Musik produzierten. Überraschenderweise sorgte diese Community für das Überleben der türkischen Lieder und der Musik in den USA.
1925 eröffneten Marika und ihr Mann ein Cafe in New York City, Marika’s. Das Cafe wurde zum Treff von Griech*innen, um gemeinsam zu essen, zu trinken und zusammen ihre Heimatmusik zu hören. Aber auch andere Völker sehnten sich nach der Küche und der Musik ihres Heimatlandes. Bulgar*innen, Türk*innen und Armenier*innen schauten oft im Marika’s vorbei. Während Anatolien und der Balkan in Flammen standen, aßen und tranken die verschiedenen Nationalitäten und Religionen des Osmanischen Reiches fernab vom Konfliktherd zusammen und hörten gemeinsam Musik.
Genauso wie es den griechisch-orthodoxen Anatolier*innen in Griechenland erging, hatten auch diese Immigrant*innen eine Menge Hürden zu überwinden. Heimweh ist das Hauptthema im wunderschönen Song Neden Geldim Amerika’ya (Warum bin ich nach Amerika gekommen?). Obwohl der Sänger Ahilleas Pulos nach den Gewalttaten, die an den Griechen verübt wurden, Sicherheit in Amerika fand, besingt er den Verlust seines Heimatlandes in diesem schönen, ergreifenden Lied.
Die zweite Generation der anatolischen Geflüchteten
Die ersten Aufnahmen der „türkischen Songs“ in Griechenland wurden hauptsächlich auf Griechisch aufgenommen. Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Stelios Kazantzidis, einer der größten griechischen Künstler der Nachkriegszeit, nahm eine Menge Songs auf Türkisch auf. Kazantzidis wurde zwar in Griechenland geboren, seine Eltern aber kamen aus Anatolien. Wie viele andere Kinder von Geflüchteten hatte Stelios mit Armut und Diskriminierung durch „einheimische“ Griechen zu kämpfen. Seine Erfahrungen als Geflüchteter sowie die anatolischen Klänge in seiner Musik machten ihn bei den Armen und unterdrückten Heimatvertriebenen populär. Und das nicht nur in Griechenland, sondern in allen griechischen Gemeinden auf der Welt – vor allem in Israel.
Der folgende Song ist ein wunderschönes Beispiel für die prächtige Stimme Kazantzidis‘. Er singt den Text mit einem starken Akzent, aber mit seiner Stimme schafft er es, die Fluktuation zwischen Sehnsucht, Schmerz und Freude hervorzuheben.
Heute
Heutzutage scheint griechische Musik in der Türkei vollkommen akzeptiert. Griechische Künstler*innen touren oft in der Türkei und spielen bekannte Lieder, während türkische Künstler*innen Karriere in Griechenland machen. Die türkische Sängerin Dilek Koç zum Beispiel heiratete einen griechischen Mann und kooperierte mit Glykeria, einer der bekanntesten Sängerinnen Griechenlands. Auf ihrem Album Sevdalim Aman singen Koç und Glykeria Lieder, die man sowohl in Griechenland als auch in der Türkei kennt.
All diese Lieder zeigen, dass Kriege, Vertreibung und die Gründung von Nationen in einem verworrenen Netz resultierten, in dem Ethnizität, Religion, Sprache und Musik auf komplizierte und zum Teil schmerzhafte Weise verwoben sind. Obwohl die Trennung der Geflüchteten in Griechenland von ihrer Heimat Anatolien absolut war, entpuppte sich die Trennung von ihrer Muttersprache, ihrer Kultur und Musik als eine außerordentliche Bürde. Für lange Zeit erinnerte der bittersüße Charakter der Musik aus Anatolien an das verlorene Heimatland und die schwierige Lage, die auf ihre Vertreibung aus Anatolien folgte. Aber heute, fast 100 Jahre nach dem Ägäischen Drama, wird diese geteilte Musik dazu genutzt, die gemeinsame Geschichte und kulturelle Grundlage der Türkei und Griechenlands zu feiern – und das auf beiden Seiten der Ägäis.
Text: Rik Binnendijk
Übersetzung: Yasemin Bodur
Bild: Unknown – Scan from “Fünf Griechen in der Hölle”, Trikont LC 4270 (1982) (Wikipedia)