„Hüzün…das heißt Sehnsucht“ ist der Titel der autobiografischen Erzählungen des Journalisten Baha Güngör. Der Untertitel „Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben“ lässt bereits erahnen, worum es geht: Um ein Leben im Spannungsfeld von Zuschreibungen, Zerrissenheit und Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Gastautor Werner Felten, der Baha Güngör persönlich kannte, gibt uns Einblicke in das Buch.
Er wohne jetzt in Köln in der Nähe von St. Agnes, erzählte mir Baha bei unserem letzten Telefonat. Das ist ja lustig, da haben meine Großeltern gelebt, erwiderte ich. Wusste gar nicht, dass du Kölner bist. Da hast du doch bestimmt oft Hüzün nach deiner Heimatstadt? Nein, nein, wiegelte ich ab, zu viele Ks. Du meinst Kinder, Küche, Kirche, er lachte. Nein, zu viel Kölsch, Karneval und Köln, erwiderte ich. Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. Aber du kommst doch mal auf ein Kölsch vorbei? Aber klar doch! Einige Monate nachdem Gespräch verstarb Baha. In seinem Buch „Hüzün…das heißt Sehnsucht“, das nach seinem Tod erschien, lesen wir von seinen Erinnerungen.
Sehnsucht nach einer Heimat war das, was den Journalisten Baha Güngör sein Leben lang umtrieb. Er wurde 1950 auf der europäischen Seite in Istanbul geboren und verbrachte dort seine Kindheit, bis er mit elf Jahren nach Deutschland zog. Er war kein „Gastarbeiterkind“, dafür kam er 1961 zu früh nach Deutschland. Seine Mutter hatte sich von ihrem Mann getrennt und studierte in Aachen Medizin. Baha wurde aus Istanbul zu seiner Mutter gebracht. Ausführlich berichtet er in seinem Buch über seine Schulzeit, seiner Ausbildung als Einzelhandelskaufmann und wie er als Dolmetscher, vielleicht auch gegen seinen Willen, auf seine türkische Herkunft hin eingenordet wird. Diese Zuschreibung wird ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen und in einen Zwiespalt treiben.
Als erster türkeistämmiger Zeitungsvolontär in Deutschland wird er zwar auch mit den lapidaren Aufgaben, die jeder Berufsanfänger so erledigen muss, betraut („Messe der Rassehunde“ und Ähnliches) – sobald jedoch ein Thema mit Türkeibezug auftaucht, muss er der Fachmann sein. Was ihm widerfahren ist, ist vielen später genauso geschehen und es passiert immer noch: Türkeifachmann*frau wider Willen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer türkeistämmigen Redakteurin einer Tageszeitung, die sich für das Wirtschaftsressort beworben hatte und zur Korrespondentin für die Türkei gemacht wurde: Der „gut gemeinte“ Rassismus.
So geschah es auch Baha. Seine Bestrebungen bei der Agentur Reuters auch einmal an das Inlandsdesk zu gelangen, scheitern an seiner Herkunft – „einmal Türke immer Türke“ hieß es auch in dieser Nachrichtenagentur. Güngör wurde als Spezialist für die Türkei eingesetzt. Dann kann ich auch gleich in Türkei gehen, dachte er sich und war letztlich 15 Jahre Korrespondent in Istanbul. Hier das Gleiche, nur andersherum. Manche sahen in ihm einen Vaterlandsverräter oder deutschen Spion, oft auch beides.
Baha schildert sein Leben nüchtern in einem angenehmen Plauderton. Außer im Bericht über seine Jugend in Aachen spart er Privates aus. In der Passage über Istanbul schimmern ab und zu Sorgen und Nöte für sich und seine Familie durch. Da erfahren die Lesenden kurz etwas über den privaten Baha Güngör. Ansonsten bleibt er dabei, über seine beruflichen Erfolge und Niederlage zu berichten. Das ist schade, weil die private Ebene einen weiteren interessanten Aspekt über den Menschen Baha ergeben hätte.
Vielleicht wollte er das nicht oder er war noch nicht soweit: Zeitlich wie emotional, denn das Manuskript blieb durch seinen Tod unvollendet. Baha Güngör starb 2018. Vielleicht auch deshalb widmet er den 16 Jahren, die er als Leiter der türkischen Redaktion bei der Deutschen Welle gearbeitet hat, nur wenige Seiten.
Das Coverbild des Buchs ist eigenartig. Wenn der deutsche Gartenzwerg eine Reminiszenz an die 60-ziger Jahre sein soll, dann ist es eindeutig, nur der Fes auf seinem Kopf dagegen passt überhaupt nicht, denn das Tragen eines Feses wurde schon 1925 durch Kemal Atatürk verboten. Sollte das Bild auf die heutige Zeit hinweisen, so passt beides nicht, denn der Gartenzwerg ist längst ausgestorben und wurde ersetzt durch den Tand aus den Baumärkten.
Die fiktiven Gespräche, die Lale Akgün, Diplom-Psychologin, frühere Bundestagsabgeordnete und eine lebenslange Freundin von Baha Güngör, dem Buch beigefügt hat, machen es umso lesenswerter. Sie diskutieren darüber, was es eigentlich heißt türkisch und oder deutsch zu sein und ob ein Mensch eigentlich eine Heimat im herkömmlichen Sinn benötigt, um sich aufgenommen zu fühlen.
Unter anderem durch seine Berufswahl wurde Güngör gezwungen sich mit den Themen Heimat und Zugehörigkeit auseinanderzusetzen. Heimat bedeutete für ihn das Gefühl aufgenommen zu sein und der Dazugehörigkeit. Ob er es wohl je empfunden hat?
Text: Werner Felten
Bild: Dietz Verlag
Baha Güngör/Lale Akgün:”Hüzün … das heißt Sehnsucht. Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben”, Dietz-Verlag 2020, 240 Seiten, ISBN 978-3-8012-0540-9