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fancy immigrantin. ein poetisches tagebuch

Zwischen Zusammenhalt und Rassismus, Armut und Privilegien, Migrantisch und Alteingesessen, fancy und basic: Mit wachem Blick beobachtet Hatice Açıkgöz Szenen ihres Lebens und zieht daraus ihre eigenen Schlüsse. In ihrem Lyrikband reflektiert die Autorin ihre Kindheit, ihr Aufwachsen, aber auch die politische Gegenwart in Deutschland. Mal wütend, mal humorvoll, mal traurig – aber immer voller erzählerischer Kraft. Ein brandaktuelles Buch, das man beim Lesen fühlt, egal ob man viele oder wenige der Erfahrungen teilt. Blickfang: Die Illustrationen sind von İrem Kurt, die bereits oft für Maviblau illustriert hat.

fancy immigrantin – ein poetisches tagebuch ist im März 2023 bei w_orten&meer erschienen.

Maviblau: Das fancy Zimmer, ein superordentliches Zimmer ausschließlich für Gäste, oder in Alufolie gewickeltes Börek in der Schulpause, während alle anderen Brotdosen hatten: In ‚fancy immigrantin’ geht es viel darum, Dinge umzudeuten, die früher belastend oder ausgrenzend waren. Wobei hast du das am stärksten empfunden?

Es gab jetzt nicht unbedingt eine Sache, die hervorgestochen ist – es gab viele Sachen, die traumatisch waren. Da ging es dann eher darum, das zu verarbeiten und in eine literarische Form zu bringen, weil es so unfassbar viel war. Und es geht ja immer noch weiter, es passieren ja immer noch diese Dinge. Nur weil das Buch durch ist, heißt es ja nicht, dass Rassismus fertig ist. Das wäre schön! Auch der politische Teil am Ende des Buches geht immer weiter. Ich habe noch nicht mal alles angeschnitten, was ich hätte schreiben können. Es ging mir erstmal darum, zu merken: Ich hasse voll viel an mir selbst, und diesen Gedanken wegzubekommen aus meinem Kopf. Und dann zu sagen: Warum ist das denn so? Es ist ja nicht schlecht, es wurde mir einfach nur eingeredet. Und so sind die Texte entstanden.

Maviblau: Neue Begriffe wie fancy und basic, Kleinschreibung: Was hat es bewirkt, deine eigenen Regeln aufzustellen?

Die alten Regeln gehen mir auf die Nerven. Ich hasse die Regeln! (lacht) Die Begriffe sind ja nichts Neues, es ist eher re-definiert, was ich zu fancy und basic sage. Ich habe den Text ‚fancy schmancy immigrants‘ geschrieben für den Open Call des ‚Schnipsel‘, es ging um Räume und Barrieren. Ich habe überlegt: Gibt es ein Zimmer in meiner Kindheit, das mich geprägt hat? Und ich kam auf das fancy Zimmer. Ich hatte schon komplett vergessen, dass wir das hatten, weil es so lange her ist. So kam ich auf den Begriff fancy und dass man damit was machen könnte. Als ich das Buch angefangen habe, dachte ich: Wer will denn jetzt eigentlich mein Tagebuch lesen? Eigentlich niemand! Irgendwas muss daran anders sein, denn ich breche gerne die Regeln, ich finde vieles an der deutschen Sprache diskriminierend und ausschließend. Als Gegenbegriff zu fancy habe ich basic genommen und habe dann diese beiden Begriffe definiert. Kleinschreibung mache ich auch schon mega lange. Bei ‚ein oktopus hat drei herzen‘, meinem letzten Buch, habe ich das nur gemacht, um zu schauen, was der Verlag sagt. Lyrik kleinschreiben ist nichts Neues, machen eigentlich fast alle, aber ich dachte: “Wenn ich jetzt Prosa kleinschreibe – was machen die dann?” Aber sie haben einfach gar nichts dazu gesagt und es so abgedruckt. Jetzt ist das irgendwie mein Ding. Wenn ich jetzt großschreibe, finde ich das irgendwie richtig hässlich – es passt nicht zu dem, was ich sage. Wenn ich Kolumnen und Artikel schreibe, halte ich mich natürlich an die Regeln. Aber in meinen anderen Projekten – ich habe gerade ein Romanprojekt – da wird zum Beispiel bei einer Person großgeschrieben und bei der anderen nicht.

Maviblau: Kannst du basic und fancy nochmal erklären?

Das muss ich immer erklären! Immer wieder missverstehen Menschen das. Ich weiß nicht, ob es an meiner Beschreibung im Buch liegt, oder an den descriptions auf Amazon.

Maviblau: Dann fragen wir mal ein bisschen anders: Was war in letzter Zeit so richtig basic? Was war so richtig fancy?

Also für mich ist im Moment die komplette Partei FDP basic. Christian Lindner ist basic. Der kann gehen! In meinem Buch habe ich ja die AFD als Beispiel, das sind die krassesten basic Leute die es gibt, und auch ihre Wähler sind basic. Was war fancy? Sasha Colby hat RuPaul‘s Drag Race Staffel 15 gewonnen. Das war richtig fancy!

Maviblau: Das Format ‘poetisches Tagebuch’ habe ich so noch nie gesehen. Hat das mit deinem persönlichen Tagebuch angefangen?

Nein. In mein persönliches Tagebuch würde ich nicht so komische Sachen schreiben. (lacht) Ich hab Gedichte geschrieben – viele der Texte, zum Beispiel ‚fancy schmancy immigrants‘, sind in Literaturzeitschriften erschienen. Da habe ich dann eine Ähnlichkeit bemerkt im Aufbau, wie ich schreibe, wie jeder Text zustande kommt. Es fing immer an mit einer Erinnerung, ging dann weiter und am Schluss kam eine conclusion. Und ich dachte: Oh, irgendwie mach ich das die ganze Zeit. Okay, dann mache ich das jetzt ein ganzes Buch lang! Zum Format: Früher, wenn ich Tagebuch geschrieben hab, oder auch jetzt, wenn ich an Romanen arbeite, mache ich das so, dass ich alles, was ich finden kann – jeden Textschnipsel, jedes Bild – in ein Notizbuch einklebe. Das sieht dann richtig unordentlich aus, ein bisschen chaotisch und so wollte ich das in dem Buch auch darstellen, aber lesbarer.

Maviblau: Reflektiert sein, alles durchdenken, erklären, mit Gewohntem brechen: War das schon immer in dir? Hast oder hattest du Vorbilder, die so sind?

Ich habe nicht unbedingt Vorbilder, aber ich habe zwei Lehrer*innen, denen das Buch unter anderem gewidmet ist. Vor allem der SoWi-LK-Lehrer. Da haben wir auch viel über Migration geredet und über das Mittelmeer, dass Leute da sterben. Er ist da nie so darauf eingegangen, wie ich darauf eingehen würde. Rassismus haben wir nie besprochen, hätten wir mal machen können. Aber da habe ich ein bisschen dieses Reflektieren gelernt, in der Abi-Zeit. Ich bin sowieso ein nachdenklicher Mensch und introvertiert. Aber wenn man traumatische Erlebnisse hatte, denkt man auch mega viel und ständig nach: Warum ist das passiert und was kann ich jetzt tun, damit das nicht nochmal passiert? Und auch durch meine Erziehung – meine Mutter hat mir beigebracht, ich soll mir von niemandem was gefallen lassen. Und jetzt erst ist das bei mir angekommen, dass ich anfange mich zu wehren, wenn was ist. Oder, dass ich auch bei anderen versuche, zu helfen, wenn ich was sehe. Also wenn auf der Straße eine Person ist mit Hijab und ich sehe schon, dass da andere Leute irgendwas machen, gehe ich da direkt hin. Es ist natürlich auch ein bisschen gruselig, nachdem was mit Dilan war, zum Beispiel, die von sechs Erwachsenen verprügelt und dann von der Polizei beschuldigt wurde, oder immer wieder Morde wie die in Hanau. Aber wenn ich in der Situation wäre, würde ich auch wollen, dass jemand hilft. Irgendwie geht’s ja gar nicht anders.

Jetzt erst bin ich eine fancy immigrantin!

Maviblau: Innerhalb derselben Community kann es ja auch Ausgrenzung geben. In einem deiner Texte beschreibst du, dass zum Beispiel Freundinnen dein Türkisch-sein infrage gestellt haben, weil du nicht wusstest, dass an diesem Tag ein muslimischer Feiertag ist. Warum passiert das und wie bist du damit umgegangen?

Als ich jünger war, war mir das richtig peinlich, weil ich eben dachte, ich muss das alles wissen, und ich muss das alles können. Auch wenn Türkisch-sein natürlich nichts mit Muslimisch-sein zu tun hat. In meiner Familie war es so; meine Eltern sind zwar gläubig, aber da hat meine Familie keinen Wert darauf gelegt, dass ich alles darüber weiß, alles kenne und alles mache. Und das hab ich dann eben auch nicht. Deshalb war es mir dann aber auch mega peinlich, wenn ich einen Feiertag nicht kannte, bei dem manche meinten, den muss man doch kennen. Oder wenn ich nicht wusste, dass der heute ist. Heutzutage verstehe ich ehrlich gesagt immer noch nicht, warum erwachsene Leute so miteinander umgehen. Ich finde auch im Literaturbetrieb ist es unsolidarisch. Für migrantische Leute gibt es wenig Plätze und dann will man nicht jemanden dazuholen in der Angst, dass diese Person dann einen Platz wegnimmt. Ich habe nicht so wirklich Lust darauf, das so zu machen. Deshalb nehme ich gerne Leute mit, wo auch immer ich bin. Aber manche sagen dann trotzdem zu mir, ich bleibe in einer Opferrolle, oder wieso ich immer über Rassismus schreibe. Es ist ein bisschen nervig, wenn Leute, die es auch betrifft, das nicht empowernd finden, sondern didaktisch.

Maviblau: Ja, das kommt auch vor?

Ja, „zu didaktisch“, oder „ich will Leute bilden damit“, und das gefällt ihnen nicht. Das finde ich ein bisschen schade. Aber das sind eben die Sachen. Ich frage mich auch, ob es falsch von mir war, mit solchen Büchern anzufangen in der Branche, ob ich die nicht hätte später machen sollen und erst mal meine literarischen Sachen. Aber es ist eben passiert! (lacht) Irgendwann hätte ich das Buch eh geschrieben. Es ist auch wichtig, erstmal diese therapeutischen Sachen für mich selbst zu schreiben und nicht direkt an Publikum und Marketing zu denken, und zum Beispiel einen Krimi zu schreiben, nur weil der sich verkaufen wird.

Maviblau: Im Vorwort schreibst du: „Vor fünf Jahren hätte ich mich sicher nicht getraut, diese Erfahrungen zu teilen“. Was hat sich seitdem verändert? Woher nimmst du die Kraft, schmerzhafte Erfahrungen zu teilen?

Ich glaube, vor fünf Jahren wäre ich noch nicht in der Lage gewesen, es in dieser Art und Weise zu reflektieren. Ich hätte vielleicht was geschrieben, aber das wäre glaube ich nicht fertig, nicht wie jetzt, wo ich Strukturen erkenne, warum Dinge passieren. Ich hätte die Schuld bei mir selbst gesucht, wie ich das vorher immer gemacht habe,  wie bei diesem einen Typen, der auf mich und eine Freundin gespuckt hat. Ich hätte gedacht: “Was hab ich denn jetzt gemacht, dass der auf mich spuckt?” Dass es nicht meine Schuld ist, hätte ich damals einfach gar nicht so richtig erkannt. Ich hätte auch nicht das Selbstbewusstsein gehabt, Texte darüber zu schreiben, die Leute lesen werden. Das ist immer noch ein bisschen komisch, ehrlich gesagt. Vor fünf Jahren hätte ich es auch nicht ausgehalten, dass Leute mich sehr viel darüber fragen, über diese Erfahrungen. Auch das immer wieder vorzulesen, ist wieder traumatisierend. Leute kommen auch zu dir, und manche sagen auch Sachen, wo man dann denkt, okay, ich will hier weg. Immer wieder diesen Kreis mitzumachen, hätte ich vor fünf Jahren gar nicht hinbekommen.

Maviblau: Lohnt es sich auch, sich in seinem Schreiben verletzlich zu machen?

Jetzt fragst du mich nach was Schönem! (lacht) Ja, klar. Ich hab’ ein Buch. Das ist natürlich schön, Autorin zu sein, Leute interviewen dich. Es ist schön, wenn Leute einem schreiben, dass sie sich das erste Mal gesehen gefühlt haben. Irem hat mir gesagt, sie wünschte, das Buch wäre vor 10 Jahren da gewesen. Sie hat mir auch gesagt, sie war inspiriert davon, dass ich den Mut habe, das zu schreiben, und das schreiben mir auch sehr viele. Dass es Mut macht, dass sich Leute für sie einsetzen, und sich dafür einsetzen, dass wir alle eine bessere Welt haben können.

Autorin: Seda Demiriz
Illustration: Irem Kurt

Hatice Açıkgöz ist Autorin, Redakteurin und Künstlerin und lebt in Hamburg. Ihre Kolumnen und Artikel erscheinen im Freitag und bei der taz. Ihre Bücher sind bei Sukultur und bei w_orten&meer erschienen. Vom 23.6. – 25.6.2023 gibt sie einen Workshop zum “Kreativen Schreiben”. Anmeldung bis zum 22.06. per Mail an h.acikgoez@outlook.de

Irem Kurt ist Illustratorin und Co-Gründerin des OUSA Collective und lebt in Berlin.
Autorin und Illustratorin lernten sich auf Instagram kennen, als beide an der Ausgabe eines Magazins beteiligt waren, und beschlossen, bei Gelegenheit zusammenzuarbeiten. Angesichts der vielen verschiedenen Facetten und Stile in dem Buch kam Irem die Idee für das dichte Covermotiv, auch wenn sie erst minimalistische Ansätze skizziert hatte. In Gesprächen mit Hatice und anhand der Texte suchte sie nach Details und knüpfte verschiedene Ideen zusammen, um das Motiv zu gestalten.