Wir leben in einer Zeit, in welcher Bewegung zwischen Ländern und Kontinenten, Flucht und Vertreibung, Abreise und Ankunft von Menschen omnipräsent ist. Doch wer hat eigentlich die Deutungshoheit darüber? Ist es die Himmelsrichtung, aus der wir kommen, die darüber entscheidet, ob wir Flüchtende oder Reisende sind, ob wir willkommen geheißen oder verflucht werden? Ist es unsere Sprache, unsere Hautfarbe, unser Wissen, unser Geld? Der legale Status unserer Papiere allein jedenfalls ist es nicht, wie in „Homeland Istanbul – ein deutscher Heimatabend“ zu sehen sein wird. Fünf Tage vor der Premiere des Stückes habe ich Regisseur Emre Akal im Bakırköy Belediye Tiyatrosu getroffen, um mit ihm über sein neues Stück zu sprechen.
Wer flieht hier was? – In Homeland Istanbul wagt Emre Akal den Perspektivwechsel: Überall Menschen, die unbedingt nach Deutschland wollen. Aber was ist mit den Deutschen, die ihre grüne und saubere Heimat verlassen, um in Istanbul zu leben und dafür nicht nur in Kauf nehmen, den echten Senf durch Tahin ersetzen zu müssen?
Die fünf Figuren, die Emre Akal aus umfangreichen Interviews entwickelt hat, bewegen sich zwischen Klischee und Charakter: Erasmusstudentin, Musikerin, Managerin, Deutschlehrerin und Weltenbummler. Das Ziel: Weg aus Deutschland, etwas Neues …. das Ziel nach dem Ziel: Sich ein Zuhause schaffen, ein Zuhause wie zu Hause. Ist es wirklich so leicht? Für die Liebe sind sie gekommen, für den Job, doch warum bleiben sie? Und warum immer länger? Was suchen sie hier, was finden sie? Diesen Fragen geht Emre Akals Text nach.
Vom Muezzin, den sie kennen und hassen und vergessen und doch noch lieben lernen über Heißwachsbeinenthaarung bis zur nachgesagten KZ-Disziplin werden die fünf SympathieträgerInnen mit allem konfrontiert, was Deutsche in Istanbul so mitmachen. Und auch mit der Einsamkeit, der Ausweglosigkeit, der fehlenden Zeit zum Nachdenken, dem Schmerz, den dieses Leben mit sich bringt – der Preis für’s Weiterwollen, der natürlich niemals mit einem durchlöcherten Flüchtlingsboot verglichen werden darf.
Wir sehen fünf blonde Helgas mit blauen Augen – doch sind diese Augen offen oder geschlossen? Laufen wir als Deutsche mit geschlossenen Augen durch Istanbul, nichts als das Erreichen der einzigen deutschen Vollkornbrotbäckerei im Kopf? Genau wie die Bedeutung des deutschen Passes erst klar wird, wenn wir im Ausland sind, so auch die so manches deutschen Brauches oder des Gefühls, Gleichgesinnte zu haben, die verstehen, was es heißt, wenn „mal wieder was explodiert ist“, anders als Mutter am anderen Ende des Telefonkabels. Und so kommt ein weiterer Gemeinplatz auf die Bühne, nämlich, wie das Weg-Sein dich in die Klischees erst presst. Oder würde eine Frau wie die Deutschlehrerin im Stück „zu Hause“ ernsthaft Gefallen daran finden, Strickmuster auszutauschen und dabei an Porzellantässchen zu nippen?
Nicht nur des Bühnenbildes wegen geht mir immer wieder ein Licht auf – von der Decke des hallenartigen Raumes baumeln Glühbirnen, die Bühne ist angenehm schlicht gehalten. Der Text nimmt mich mit, genau wie ich ganz wortwörtlich mitgenommen werde – niemand kann sich davor entziehen, angesprochen zu werden! Manchmal fühle ich mich wie auf frischer Tat ertappt. Muss ich mich schämen, weil auch meine deutsche Heimat sich in kleinen Dingen in meinem möblierten Zimmer versteckt? Weil ich Filterkaffee bevorzuge? Bin ich nicht open-minded genug? Wird mir der Vorwurf gemacht, den Klischees zu entsprechen?
Emre Akal sagt ganz klar nein und betont, er wolle mit dem Text kein Deutsch-Bashing betreiben. Vielmehr ist es ein Beobachten und Lachen und er hat Recht: Wir, die wir das lieben, uns selbst wiederzuerkennen, uns zu schämen und dann darüber zu schmunzeln, können in seiner kleinen Sozialstudie vielleicht sogar so etwas wie eine aristotelische Katharsis finden. Und wenn vielleicht nicht das, lohnt es sich auch schon, Hasan Taşgıns Gesängen zu lauschen.
Homeland Istanbul ist nicht das erste Stück des Regisseurs, welches sich aufbauend auf Interviews mit der Bewegung zwischen Istanbul und Deutschland beschäftigt. Diese Bewegung, die mit dem Flugzeug oft nur 40 Euro und 3 Stunden bedeutet, sich tatsächlich aber viel komplexer anfühlen kann. In Almanci setzte er sich mit den Erlebnissen von mit türkischen Eltern in Deutschland und Österreich aufgewachsenen Menschen auseinander, eben den „Almancis, Doyçlender“. Hierbei flossen etliche autobiographische Elemente ein.
Als Kind in den Ferien und nun als Stipendiat in der Türkei, lebt Emre Akal selbst in beiden Welten und sagt „Im Moment ist es das Beste, was ich mir vorstellen kann“. Ähnlich verhält es sich auch beim Dramaturgen der Produktion Tunçay Kulaoğlu und Regisseur Nurkan Erpulat, der die beiden mit Rat und Tat unterstützt. Nurkan Erpulat ist jetzt seit sechs Monaten in Istanbul, er ist in der Türkei geboren und aufgewachsen, ging dann nach Deutschland. Der Flow der Stadt, das Lebensgefühl, fangen dich ein, sagt er. „Du machst einfach irgendwie mit, im positiven wie im negativen Sinne.“ Für ihn liegt ein wichtiger Fokus von Homeland Istanbul auf der Frage, was Integration überhaupt heißt. „Jede Verweigerung der Integration wird wie eine Todsünde behandelt. Ich möchte mich aber nicht integrieren, ich hab’ mich auch nicht in die Türkei integriert, warum sollte ich mich in Deutschland integrieren und wer verlangt das von mir?“ Dass genau dies hier einmal nicht krampfhaft diskutiert wird, macht für ihn den Reiz des Stückes aus.
Während auf deutschen Bühnen mit deutsch-deutschen SchauspielerInnen Migrationstheater gemacht wird, war Emre Akals Absicht, das einmal umzudrehen. Die ach so deutschen Figuren werden von einem Ensemble dargestellt, in dem sich jede(r) Einzelne schon mit den Fragen nach Herkunft und Identität auseinandersetzen musste. Berivan Kaya, Hasan Taşgın und Elif Veyisoğlu sind im Spannungsfeld Deutschland – Türkei groß geworden; Su Olgaçs Deutsch macht fälschlicherweise glauben, sie müsse Jahre dort verbracht haben und Lodi Doumit kann darüber lachen, dass sie als einzige die Ensemble-Zweitsprache Türkisch nicht beherrscht. Vor der Probe bleibt noch etwas Zeit zum Reden – in der kleinen Oase zwischen den Wohnblöcken, wo sich das Theater befindet – , es entspinnt sich eine Unterhaltung aus den Fragen: Wie lange bist du schon hier? Wann musst du zurück? und Willst du zurück? Als ich nach der Probe nochmal daran denke, muss ich lachen. Das Stück endete mit dem Wort „und“ und drei Punkten. Genau das ist es wohl, was vielen in den Sinn kommt, wenn sie an ein Ende ihres persönlichen Istanbulaufenthaltes denken.
Liebe, Arbeit, Studium, Interesse an Kunst, Geschichte, Wirtschaft …. Gründe gibt es viele nach Istanbul zu kommen und so manche(r) Erasmusstudierende ist länger geblieben als anfangs gedacht. Liegt dies nun am vom Baklava verklebten Hirn oder am Glauben daran, dass in dieser Stadt alles möglich ist? Was ist dieser Sog, was bringt uns her und hält uns hier – wenn wir in Homeland Istanbul vielleicht auch keine allgemeingültigen Antworten finden können, so doch sehr konkrete und wahnsinnig lustige. Und letztlich die Einsicht: Wir alle machen uns auf den Weg, um ein möglichst gutes Leben zu finden.
Homeland Istanbul. Ein deutscher Heimatabend wird vom 24. bis 26. Mai um 20:30 Uhr
im Bakırköy Belediye Tiyatrosu aufgeführt. Das Stück ist in deutscher Sprache mit türkischen Übertiteln. Weitere Infos und Reservierungen hier.
Text: Marie Lemser