Nun ist es passiert. Auf der Straße, die ich regelmäßig herunterlaufe, hat sich jemand in die Luft gesprengt und vier Menschen mit in den Tod gerissen. Noch letzte Woche rieselte uns die Gänsehaut wieder über den Rücken, ausgelöst vom Anschlag in Ankara vier Tage zuvor. Und wir saßen zusammen, tranken Raki und scherzten halb, gruselten uns halb. Wann wird es Istanbul treffen? Makaberer Humor ist – bis das Erwartete eintrifft – die einzige Art, nicht in Angststarre zu verfallen. Jetzt ist die Angststarre da. Und jetzt melden sich besorgte Freunde und Familie aus Deutschland. Haben sich immer zurück gehalten, wollten nicht gluckenhaft reinreden. Doch jetzt: Wann kommst du zurück? Warum bist du immer noch dort?
Seit ungefähr sechs Jahren ist Istanbul mein Lebensmittelpunkt. Durch das Erasmusprogramm habe ich mich in die Stadt und vor allem in ihre Menschen verliebt. Habe mich neu erfunden, zu mir zurück gefunden und Höhen, Tiefen und Erfahrungen gelebt, die ich mir nicht hätte träumen lassen. Und vor allem habe ich hier eine weitere Familie gefunden. Freunde, die mir tief ins Herz gewachsen sind. Durch die ich hier ein Stück Heimat, was immer das ist, gefunden habe. Die Heimat, auch wenn sie in einer fremden Sprache geschrieben ist, lässt man nicht so leicht los. Und doch wird diese Heimat immer dunkler. Die Unruhe, Angst, Perspektivlosigkeit um mich herum breiten sich aus wie ein dunkler Tintenfleck. Und ich mittendrin.
Letztes Wochenende ist Istanbul zur Geisterstadt mutiert. Die Straßen waren komplett frei. Das sind sie sonst sogar nachts um drei Uhr nie. Und die Essensservice-Plattform Yemeksepeti hatte ihre neue Rekordzahl an Bestellungen. Die Menschen haben das Haus am Wochenende nicht verlassen. Konzerte, Kunst-und Kulturveranstaltungen werden abgesagt. Besser keine Menschenaufläufe, besser kein Vergnügen. Das ist ein physischer und psychischer Ausnahmezustand. Und wie lange dieser anhält und wie es weitergeht, ist ungewiss. Und dann sind da türkische Freunde, die fragen: „Warum bist du immer noch hier? Wann gehst du zurück?” Darin schwingt mit: Du kannst gehen. Du bist hier nicht gebunden. Du hast die ultimative Austrittskarte. Und mir und ihnen ist klar: Sobald es wirklich brenzlig wird, bin ich weg. Und sie bleiben. Ein großartiges Privileg mit wirklich bitterem Beigeschmack.
Du kannst gehen. Was machst du noch in der Türkei? Eine bohrende Frage mit zu viel Gewicht. Ein Abwägen von dem emotionalen Zuhause und einem auf dem Papier, von „vernünftiger” Zukunft und lebensintensiver Gegenwart. Und doch momentan essentiell eine Frage danach: Wann ist das persönliche Limit erreicht?
Was ich noch in der Türkei mache? Dieses Land und die Menschen, mit denen ich mir das Leben hier teile, sind ein wesentlicher Teil meiner inneren Heimat geworden. Und so lange mein Limit noch nicht erreicht ist, werde ich für das Leben hier einstehen. Und ich werde mich aktiv daran beteiligen, dass Terror – von wem auch immer – die Lebensleichtigkeit, die schönschwere Melancholie, die tiefe Menschlichkeit und den Zusammenhalt, den ich hier kennenlernen und verinnerlichen durfte, nicht zerstören wird.
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Text: Marie Hartlieb
Redaktion: Tuğba Yalçınkaya