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Ruhi Su und das moderne türkische Volkslied

Diesen Artikel gibt es auch in türkischer Sprache hier: Türkçe

Je weiter die Volkslieder an einem Ort entwickelt sind, je ausdrucksstärker sie sind, desto härter sind die Bedingungen dort. Nicht umsonst sind die Volkslieder gefürchtet!”

Mehmet Ruhi Su

Ruhi Su war Opernsänger, Volksmusiker und ein Virtuose an Violine und Saz. Bereits zu Lebzeiten galt er als Meister des Volksliedes und war aufgrund seiner Musik immer wieder ein Dorn im Auge politischer Machthaber. Wer heute die Entwicklung der modernen türkischen Volksmusik verstehen möchte, kommt daher nicht um die Geschichte Ruhi Sus herum.

Ein Kritisch Theoretischer Epilog

Als sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 in ihrem Werk “Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug” der Produktion künstlerischer Güter im Kapitalismus widmen, ist dies der Ausgangspunkt für eine radikale Kritik am Verständnis künstlerischen Schaffens in der Moderne. Die Annahme, dass auch Kunst ökonomischen Rationalisierungsprozessen unterworfen sei und der Aufrechterhaltung kapitalistischer Verhältnisse diene, skizziert hierbei nicht nur eine pessimistische Wahrnehmung von Kunst. Sie dient auch als Impulsgeber für die Frage, inwiefern es in kapitalistischen Gesellschaftskontexten überhaupt noch möglich ist, authentische Kunst hervorzubringen.

Erst viel später – in seiner posthum als “Ästhetische Theorie” veröffentlichten Arbeit – beschäftigt sich Adorno mit der Frage, wie das Authentische der Kunst zum Vorschein gebracht werden kann. Nach Adorno besitzt die Kunst dabei einen doppelten Charakter: ihren Warencharakter und ihren authentischen Geist. Im Warenmodus fungiert die Kunst als Rädchen im Getriebe des Kapitalismus, während ihr authentischer Geist als “soziale Antithese der Gesellschaft” in Erscheinung tritt. In eben jener immateriellen Seite der Kunst verbergen sich Klassengegensätze und soziale Kämpfe. Hieraus entsteht wiederum ein paradoxes Potenzial von Kunst, welches in der Lage ist, kapitalistischen Rahmenbedingungen zum Trotz, einen progressiven Beitrag zur Aufklärung von Machtverhältnissen zu leisten.  

In meinen vergangenen Artikeln für MaviBlau hatte ich den Versuch unternommen, den authentischen Geist türkischsprachiger Populärmusik herauszuarbeiten. Angefangen beim Anadolu Rock der 1970er über die Özgün Müzik der 1990er entstanden dabei zwei vergleichbare Narrationen, deren gemeinsamer Nenner ihr Rückgriff auf die türkische Volksmusik war. Dabei fungieren die türkü auch heute noch als eine schier endlose Quelle widerständiger Inhalte. Diese sind so stark im Kollektivgedächtnis der Türkei (und Teilen des Balkans, Kaukasus und mittleren Ostens) verankert, dass weder Sultane noch Militärdiktaturen in der Lage waren, diese auszulöschen.

Doch auch unser heutiges Verständnis der türkü ist als modernes Erzeugnis zu verstehen. Am treffendsten lässt sich dies an der Lebensgeschichte eines Künstlers skizzieren, der wie kein anderer in der Türkei, Moderne und Tradition zusammenzuführen wusste: Ruhi Su. Er war Opernsänger, Volksmusiker und ein Virtuose an Violine und Saz. Bereits zu Lebzeiten galt er als Meister des Volksliedes und war aufgrund seiner Musik immer ein Dorn im Auge der Politik. Wer also heute die Entwicklung der modernen türkischen Volksmusik, aber auch deren „authentischen Geist“ verstehen möchte, kommt daher nicht um die Geschichte Ruhi Sus herum.

Vom Waisenjungen zum Star der Staatsoper

Mehmet Ruhi Su wurde 1912 im ostanatolischen Van geboren. Seine leiblichen Eltern lernte er nie kennen. Da seine frühe Kindheit in die Zeit der Verfolgung und Deportationen von Armeniern durch das Osmanische Reich fiel, wurde bereits früh darüber spekuliert, ob er armenischer Herkunft sei. Er selbst pflegte diesen und ähnlichen Diskussionen aus dem Weg zu gehen und antwortete auf Fragen zu seiner Herkunft stets mit dem Satz „Ich bin eines der Kinder, die der Erste Weltkrieg zurückgelassen hat” („Birinci Dünya Savaşı’nın ortada bıraktığı çocuklardan biriyim”). Im Kindesalter wurde er von einer armen Familie adoptiert und zog mit dieser in die Stadt Adana in der fruchtbaren Tiefebene Çukurovas. Als Su sechs Jahre alt war, kam es zur Besetzung der Stadt durch britische und französische Truppen. Wie viele andere suchten auch er und seine Familie Zuflucht im nahegelegenen Taurusgebirge. Hier lernte er nicht nur die Volksmusik, sondern auch den nationalen Widerstand, die Kuvâ-yi Milliye, kennen. Bis zu seinem Lebensende sollten sich diese frühen kindlichen Erfahrungen und seine Bewunderung für den Unabhängigkeitskampf unter Mustafa Kemal in seinem künstlerischen Schaffen wiederspiegeln.

Als 1922 die Besatzung endete, entschied sich Su, nicht nur das Taurusgebirge sondern auch seine Familie zu verlassen. Angesichts der täglichen Prügel seiner Stiefmutter ging Su in ein Waisenhaus. Hier nahm er das erste Mal Geigenunterricht und lernte die klassische Musik kennen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt stand für ihn fest: Er wollte Musiklehrer werden. Zunächst gelang es ihm, in die Musiklehrerschule in Ankara aufgenommen zu werden, später kam er dann in die Gesangsabteilung des staatlichen Konservatoriums. In den 1940er Jahren wurde er Mitglied des Präsidialorchesters und leistete mit seiner markanten Bassbaritonstimme einen wichtigen Beitrag zur aufstrebenden türkischen Staatsoper. Zwischen 1943 und 1945 wurde er durch Radio Anakara einem breiteren Publikum bekannt. In der Sendung “Basbariton Ruhi Su Türküler Söylüyor” (Bassbariton Ruhi Su singt Volkslieder) trug er allseits bekannte Volkslieder vor und stellte eine beliebte Abwechslung im doch sehr spartanisch anmutenden Radioprogramm dar. 

Ruhi Su: Meister des Volksliedes

Ab den 1950er Jahren begann auch in der Türkei eine Hexenjagd auf all jene, denen eine Nähe zum Kommunismus nachgesagt wurde. Su wurde diese politische Tendenz nicht nur zugeschrieben – er war ein bekennender Sozialist und Mitglied der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP). Während die Gedichte Nâzım Hikmets der Zensur zum Opfer fielen, war Su einer der ersten Künstler die Hikmets Gedichte als Liedtexte nutzten. Diese öffentliche Solidarisierung mit dem Dichter führte kurz darauf zur Absetzung seines Radioprogramms. Kurz darauf wurde er 1952 aufgrund „kommunistischer Propaganda“ und seiner Beziehungen zur TKP zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Hinter den Gefängnismauern komponierte er Volkslieder wie “Mahsus Mahal” und “Hasan Dağı”.  

Nach seiner Entlassung im Jahr 1957 war es für Su nicht mehr möglich an die Staatsoper zurückzukehren. Was folgte, waren schwierige Jahre für den Künstler. Es sollten fast 15 Jahre vergehen, bis Su wieder öffentlich auftreten konnte. Ab 1971, mit über 60 Jahren, begann Su seine ersten Platten zu veröffentlichen. Während er in seinem ersten Album “Seferberberlik Türküleri” den anatolischen Widerstand zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges besang, widmete er sich mit den Alben “Yunus Emre” und “Köroğlu” der mündlich tradierten Volksliteratur Anatoliens. Das 1977 erschienene Album “Sabahın Sahibi var” hingegen war eine unmittelbare Reaktion auf die politischen Kämpfe seiner Zeit. Ab Mitte der 1970er Jahre erlebte die Türkei erneut politische Umbrüche. Su adressierte nun nicht mehr den Otto-Normal-Radio-Hörer, sondern eine weitaus jüngere Hörerschaft. Sus markante Stimme dröhnte nun immer öfter aus Lautsprechern linker Kundgebungen und Demonstrationen.

Mit dem von ihm gegründeten Dostlar-Korosu erhielt Sus bisheriges künstlerisches Schaffen ab 1975 einen weiteren Aufschwung. Der Chor entwickelte sich im weiteren Verlauf zu einer Institution der politischen Musik in der Türkei. Bereits früh unternahm Su mit seinem Team Auslandreisen und trat insbesondere in Deutschland auf. Seine Beobachtungen der Arbeitsmigration nach Deutschland verarbeitete er 1977 aus einer spezifisch türkischen Perspektive in seinem Album “El Kapıları”. Im Fokus stand hierbei weniger das Leben der Gastarbeiter in der Ferne, als vielmehr die Geschichten der zurückgebliebenen Familienmitglieder in der Heimat. So besang er mit Sümeyra Çakır im dem aus der Schwarzmeerregion stammenden Klagelied “Almanya acı vatan” (Deutschland bitteres Vaterland), die Geschichte einer Familie, deren Vater sich nach Deutschland abgesetzt hatte.

Ruhi Sus Vermächtnis: Das Moderne Volkslied 

Ende der 1970er Jahre drehte sich der politische Wind in der Türkei. Die einstigen Demonstrationen wichen nun der bewaffneten Konfrontation politischer Lager. Anfang 1980 war klar, dass ein Militärputsch nur noch eine Frage der Zeit war. Als die Junta am 12. September desselben Jahres über die Türkei hinwegfegte, ereignete sich ein radikaler politischer Bruch. Die Restriktionen waren allgegenwärtig und allumfassend. Ruhi Su erkrankte im selben Zeitraum an Krebs. Trotz mehrfacher Anträge und einer internationalen Unterschriftenkampagne mit Unterzeichnern, wie Heinrich Böll, Ingeborg Drewitz, Wolf Biermann und Günther Wallraff, wurde der Überführung Sus in ein Krankenhaus in Deutschland nicht stattgegeben. Als Mehmet Ruhi Su am 20. September 1985 in Istanbul verstarb, fand sich im Folgetag lediglich ein kurzer Bericht auf der achten Seite der Tageszeitung Hürriyet: “Wir haben den Meister der Volkslieder verloren – Ruhi Su ist gestorben”. Sein Begräbnis hingegen entwickelte sich zur ersten Massendemonstration in Istanbul seit dem Putsch.

Was von Ruhi Su zurückbleibt, ist nicht nur sein musikalisches Gesamtwerk und der von ihm initiierte Chor. Es ist eine völlig neue Wahrnehmung der oftmals als bäuerlich-ländlich belächelten Volksmusik. Um an dieser Stelle einen Rückgriff auf die zu Beginn gemachten theoretischen Ausführungen vorzunehmen: Ruhi Sus Werk ist kein Rädchen, sondern ein Störfaktor im Getriebe des kapitalistischen Kunstverständnisses. So sind die Lieder Sus ein Gegenprojekt zur Kommerzialisierung von Musik. Sein systematischer – mitunter musikwissenschaftlicher – Zugang auf die türkü, als tradierte Volksliteratur, zielt hierbei auf eine zeitgemäße musikalische Aufbereitung ihrer authentischen Inhalte ab. So sagt Su selbst: “Die künstlerische Entwicklung ist ein Spiegel der Entwicklung der Gesellschaft. Es kann keine Gesellschaft geben, deren Kunst entwickelt ist, deren Menschen es aber nicht sind. Vor allem kann es niemals eine Gesellschaft geben, die ihre Kunst nicht versteht. Wenn dies der Fall ist, ist diese Entwicklung nicht gesund.”

Text: Seçkin Söylemez

Illustration: İrem Kurt


Wenn ihr euch für die politisch theoretische Perzeption der Geschichte der populärmusik in der Türkei interessiert empfiehlt euch Autor Seçkin Söylemez auch einen Blick in seinen Artikel “The Sound of Protest – The Development of Political Music in Turkey between Hybridization and Cultural Heritage”


Seçkin Söylemez ist Gastautor bei Maviblau. Er ist Politologe und beschäftigt sich mit Entwicklungen im Kontext Deutschland-Türkei. Seçkin hat auf Maviblau bereits einen langen Text über die Geschichte des Anadolu Rock geschrieben. Den könnt ihr hier lesen.

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