Wenn in Istanbul mal ein vereinbarter Termin kurzfristig platzt, ist es ein Glück. Denn so bietet sich mehr Zeit, durch die Straßen der Stadt zu streifen und leisen Tönen genau zuzuhören. Werner Felten, ehemaliger Programmdirektor von metropol.fm und Autor des Buches „Allein unter Türken“, erinnert sich in diesem Gastbeitrag an seine Ankunft im stillen Istanbul und einen Spaziergang mit überraschendem Ende.
Das Flugzeug nahm die Westroute, um dann im Süden über dem Marmarameer Richtung Osten zu schwenken. Das lustige, an ein Kinderspielzeug erinnernde Symbol eines Flugzeugs ruckelte in eine Position entlang des Bosporus, seinem Lauf zum Schwarzen Meer folgend. Ein Videospiel 6.000 Meter über der Erde.
Mein Blick sah den Wendepunkt über dem sich wie eine kleine Pfütze dahin streckenden Wasser, begleitete den Flieger auf seiner Nordroute zurück zum Bosporus. Die heftige Kurve nach Süden drückte mich kurz in den Sitz, die Motoren verloren an Kraft, das Signal zum Anschnallen blinkte auf, ein leichtes Schweben brachte die Maschine in den Norden, die Landebahn suchend verlor sie an Höhe.
Bei meinem ersten Besuch vor drei Jahren war alles ganz schnell gegangen. Das Unternehmen, dem ich vorstand, hatte zur Linderung eines furchtbaren Erdbebens in der Türkei Spendengelder eingesammelt. Zur Belohnung hatte der Staatspräsident eingeladen, zu besichtigen, was aus den Spenden geworden war. Alles war organisiert gewesen. Zwischen Einladung und Festivität hatten nur wenige Tage gelegen.
Der Abflug in Frankfurt hatte sich wegen Schneefalls verzögert, der Pilot seine Gäste getröstet, dass günstige Winde aus dem Nordwesten die Unannehmlichkeit mehr als wettmachen würden. Eigentlich hatte ich keine Ahnung gehabt, wohin ich unterwegs gewesen war, hatte mein Ziel tief im Süden vermutet. Der Bildschirm mit dem Verlauf des Fluges hatte mich eines Besseren belehrt, ostwärts und dann im leichten Bogen in den Süden. Zum Kauf eines Reiseführers hatte mir die Zeit gefehlt. In der Bibliothek meines Gedächtnisses hatte ich nur die Begriffe Konstantinopel, Byzanz und die Hagia Sophia gefunden.
Die Frachter, auf den Eingang in die Meerenge zwischen Europa und Asien wartend, lagen wie Perlen an einer Schnur im Tiefenblau des Wassers. Kleinen Schaluppen gleich schaukelten sie in den Wellen. Je näher sich die Maschine dem Boden näherte, desto mehr veränderte sich die Wahrnehmung ihrer Geschwindigkeit. Aus den Schaluppen erwuchsen große Schiffe, die das Flugzeug in rasender Eile passierte. Das Land entstieg so plötzlich dem Wasser, dass ich das Meer vergaß und mit Erleichterung das Aufsetzen der Räder auf der Landebahn verspürte. Die Maschine rollte ein kurzes Stück in Richtung der kleinen Hügel im Norden der Stadt, kehrte um, fuhr zurück, suchte den Finger, um seine Passagiere in die Stadt zu entlassen.
Damals war ich abgeholt worden. Ein Mann hatte in der Ankunftshalle gestanden, ein Schild, auf dem Hoş geldiniz geschrieben war, in der Hand gehalten. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, meine Reisetasche zur Limousine zu tragen.
Während der Fahrt entlang des Meeres, das grau und schwer in der Dämmerung des Januarabends an die Begrenzungsmauern schlug, hatte er mir im besten Deutsch erklärt, dass er in Dietzenbach geboren sei, seit Jahren nun wieder hier lebe und Heimweh nach Deutschland habe, dass er Frankfurt, die kleine Stadt am Main mit ihren hohen Häusern, den ordentlichen Straßen und dem gemächlichen Leben vermisse. Verwundert hörte ich ihm zu, versuchte im Fahren einen Blick auf die Stadt zu erhaschen, aber die vierspurige Schnellstraße war wie all diese Einfallstraßen, wie in all diesen Städten der Welt. Die Ruinen einer alten Mauer waren vorbei gehuscht. Yedikule, wir nähern uns der alten Stadt, der Fahrer hatte an die Scheibe des Seitenfensters getippt.
Heute wartete keiner auf mich. Für die vielen Besuche seit dem ersten Mal hatte ich die Annehmlichkeit abbestellt. Einige Visiten hatten auch nur einen Tag gedauert. Die Frühmaschine nach Istanbul und die Spätmaschine zurück nach Frankfurt hatten gereicht. Diesmal zog ich meinen Koffer mit Gepäck für eine Woche über den spiegelglatten Boden des Atatürk-Flughafens, traf meinen Mitreisenden an der Passkontrolle wieder. Mein Pass erhielt wohl den 14. Stempel, ich nahm mir vor, später im Hotel meine Schätzung zu verifizieren. Die Stille in der Ankunftshalle war beängstigend. Ich war schon öfters samstagnachmittags eingetroffen, immer hatte reges Treiben geherrscht. Als ich nur zwei Taxen vor den Türen stehend sah, wurde mir klar, dass die große Menge an Passagieren schon auf dem Weg in die Stadt sein musste.
Der Fahrer steuerte den Wagen in den Kreisverkehr, das Blau des Meeres leuchtete schon aus den Schluchten der Wohnhäuser, die entlang des Meeres in den letzten Jahren erbaut worden waren. Vereinzelt begegneten wir anderen Autos, auf den Bürgersteig spazierten keine Menschen, an den Verkaufsbuden der Fischer fehlten die Schlangen der wartenden Käufer. Aus der Genç Osman caddesi, die neben der alten Stadtmauer von Tokapı führte, schossen keine Autos, um den Weg in das Zentrum zu suchen. Kurz überlegte ich, ob ich vielleicht einen Feiertag übersehen hätte, vielleicht einen neuen Erinnerungstag an irgendetwas, mir fiel keiner ein. Mein Fahrer vermittelte nicht den Eindruck, dass er ein Gespräch suchen würde, sondern schaute stumm und verbissen durch die Windschutzscheibe.
An den Schiffanlegern von Eminönü wurden keine Fische, keine Kastanien gerillt, selbst die Straßenverkäufer mit ihren günstigen und teils überflüssigen Angeboten konnte ich nicht ausmachen. Hoffentlich kein Terroranschlag, bangte ich, der die Behörden veranlasst hatte zu verkünden, dass die Menschen, ihre Häuser nicht verlassen sollten. Wir ließen die Galata Köprüsü links liegen, überquerten auf der Atatürk-Brücke das Goldene Horn, erklommen den kleinen Hügel in Richtung Taksim.
„Tolles Hotel“, hatte mein Fahrer vor drei Jahren verlautbaren lassen, als wir die Auffahrt zu einem modernen Bau, der ein Hotel einer internationalen Kette beherbergte, befuhren und abrupt hatten abbremsen müssen. Zwei dunkle Gestalten, gekleidet mit schusssicheren Westen, Maschinenpistolen geschultert, hatten sich unserm Wagen genähert. Einer von ihnen hatte einen Spiegel, der an einer langen Stange befestigt war, unter den Wagen geschoben. Sicherheit, wegen der vielen Terroranschlägen, hatte mir mein Helfer zu meiner Beruhigung erklärt und mich gefragt, ob ich wüsste, dass auch schon Bill Clinton in diesem Hotel genächtigt hätte. Hatte ich nicht gewusst und das mit den vielen Terroranschlägen auch nicht.
Ich war nie wieder in diesem Hotel gewesen, nicht, weil es ungemütlich oder nicht komfortabel gewesen war. Es war schlicht zu teuer gewesen. Mein Jetziges lag in einer ruhigen Seitenstraße des Taksim-Platzes, klein und fein. Nach Möglichkeit gab man mir immer das Zimmer mit der großen Terrasse, die einen grandiosen Blick über die Stadt bot. „Bok“, murmelte der Fahrer verärgert, als wir auf der autoleeren Straße an einer roten Ampel anhalten mussten.
Auf einen Schlag wurden die Türen der Häuser und Geschäfte aufgerissen, Menschen, die türkische Fahne schwingend, rannten auf die Straßen, schrien, lachten und tanzten. Der Lärm und die Bewegungen, die auf die lähmende Stille folgten, waren infernalisch. Aus den Nebenstraßen fuhren hupende Autos heran, aus den heruntergelassenen Seitenscheiben hingen Menschen, fuchtelten mit den Armen. Im Nu war unser Taxi von Autos und Menschen umzingelt. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schloss sich mein Fahrer dem Hupkonzert an und schrie immer wieder „Evet, Evet“. Die Türkei hatte das Spiel um den dritten Platz der Fußballweltmeisterschaft in Südkorea gewonnen.
Für den restlichen Kilometer zu meinem Hotel benötigten wir geschlagene zwei Stunden. Der Hotelmanager empfing mich mit einem Grinsen, schlug mir auf die Schulter, meinte „Morgen im Endspiel werdet ihr dann Weltmeister“ und lud mich ein, das Spiel mit ihm in der Hotelbar anzuschauen.
Der späte Sonntagmorgen lag auf der Terrasse. Entgegen meiner Gewohnheit hatte ich mir das Frühstück auf mein Zimmer bringen lassen, die Bedienung gebeten, es im Freien zu servieren. Die Sonne war noch zu sehen, bevor der Smog sie in die Unkenntlichkeit schicken würde. Sie zeigte ihren 12-Uhr-Stand über den Hügeln von Fenerbahçe, fegte die Hitze aus Asien nach Europa, nahm mir kurz die Luft zum Atmen und ließ mich die Markise ausfahren. In den Gärten wurden die Grillfeuer entfacht. Der Geruch, der mich schon bei meinem ersten Besuch im Januar hatte sentimental werden lassen, hatte mich in meine Kindheit nach Köln-Nippes zurück geweht. Meine Großmutter, das Papier der erratenen Kreuzworträtsel in den Ofen schiebend und das kleine Holz hinzufügend, war aus meinem Gedächtnis gestiegen. Damals im Januar hatte der Ruß der Kamine seine Spuren in den verschneiten Straßen hinterlassen.
Jetzt kontrastierte die Ausdünstung der Öfen die Hitze des Junis, vermittelte ein Aroma, entwichen, ähnlich dem aus deutschen Schrebergartenkolonien. Im Horizont stieg der Dunst aus Rauch und Abgasen der Sonne entgegen. Der Mittagsruf des Muezzin erscholl aus den Lautsprechern der Minarette, fern gesteuert von irgendeinem Server. Der Signalton meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Eine SMS teilte mir mit, dass mein Termin am Nachmittag nicht stattfinden würde, verschoben, vielleicht aufgehoben. Es war keine neue Erfahrung für mich, auch bei den letzten Besuchen war dies schon passiert. Die Treffen wurden dann einfach bei meiner nächsten Visite in der Stadt nachgeholt. Die Leere eines Sonntagnachmittags stand vor mir, wollte gefüllt werden mit Aktivitäten.
Die Häuser der Straße vor dem Hotel spendeten Schatten, die Geschäfte in ihren Souterrains waren geöffnet, hatten ihre Waren zum Angebot auf die Gehwege gerollt. Ich erwarb eine Flasche Wasser, war kurz versucht, mir eine Portion frische Mandeln zu kaufen, verschob es aber auf später. Der Teegarten am Rande des Taksim war nur mäßig besucht. Touristen hatten sich auf den abgeschabten roten Plastikstühlen im Schatten der Bäume niedergelassen. Ich fand noch einen freien Platz in der Nähe des flachen Gebäudes, in dem Tee und verschiedene andere Getränke zubereitet wurden. Es erinnerte mich an ein ehemaliges Konsumgeschäft in Leipzig, das in der Straße stand, in der ich mal gewohnt hatte.
Die Spatzen flogen auf, als ich mich setzte, auf die Bedienung wartend entdeckte ich ein dunkles Blau in einer Lücke zwischen den angrenzenden Häusern. Das Wasser des Bosporus spiegelte den Himmel unter die Bäume des Gartens, legte Sonnensprenkel auf die Tische. Zum Tee bestellte ich einen Simit, sehr zur Freude der Spatzen, die beim Verzehr wiederkehrten und mich als wahren Freund unter ihre Flügel nahmen. Ich ließ das Bittere des Tees am Boden des Glases zurück und spazierte in Richtung der İstiklâl Caddesi.
Die Hitze veranlasste die Menschen, auf der Schattenseite der Straße zu gehen. Ich schloss mich ihrem Marsch an. Die Tram ratterte mir entgegen, Menschen standen auf den Tramstufen, um ihre erhitzten Gesichter im Fahrtwind zu kühlen. In einer Gasse, die mit brüchigem Segeltuch überspannt war, kaufte ich mir einige midye dolması. Diese mit Reis, der mit Zimt und Nelken gewürzt war, gefüllten Miesmuscheln zauberten mir einen Geschmack von Weihnachten auf die Zunge. Kurz war ich versucht, mir ein Glas Wein zu gönnen, angesichts der Hitze entschied ich mich für eine weitere Flasche Wasser.
Ich hätte das Tor fast übersehen, das auch mehr einem größeren Spalt in der Mauer glich als einem einladenden Portal. Im Vorübergehen warf ich einen Blick in einen hofähnlichen Garten, meine Augen wurden eingefangen von der Farbenpracht einer Bougainvillea. Ich stoppte meinen Gang und schlüpfte durch den Spalt. Das Geviert empfing mich mit einer wohltuenden Kühle. Am Ende des Quadrats stand eine Mauer mit Rundbögen, die vormals wohl Fenster beinhaltet hatten und nun vermauert den Blick in ein Gemäuer verbargen, welches sich bei genauerem Hinsehen als eine alte romanische Kirche entpuppte. Mein Versuch, die hölzerne Tür zu drücken war vergeblich, die eiserne geschmiedete Klinge gab nicht nach. Ein Plätschern ließ mich meinen Kopf wenden. Ein in die Wand des Hofes eingelassenes kleines Becken wurde aus einem sich darüber befindenden Rohr mit Wasser gespeist, neben ihm stand eine Bank, auf der eine junge Frau saß, die einen großen Hut auf dem Kopf trug und in einem Buch las. Sie nahm meinen Blick auf und schenkte mir aus ihren Augenwinkeln ein Lächeln. Ich nickte ihr unmerklich zu, schlenderte an der gegenüberliegenden Mauer entlang, versuchte die verblassten Inschriften zu entziffern. Lateinische Buchstaben ergaben Zahlen. Ich kramte in den Rudimenten meiner Lateinkenntnisse, fand die Übersetzung in die arabische Zahlenreihe, setzte sie zusammen und las 988-1037. Der Name war durch die Jahrhunderte zur Unkenntlichkeit zerronnen.
Ein leiser Schlag des Zuklappens eines Buches, das Rascheln eines Kleides, Schritte auf dem Boden lenkten meinen Blick auf das Verschwinden der Frau in den Spalt zur Straße. Die hitzige Sonne drehte sich um den Kirchturm, warf ihr Licht auf mich, zwang mich zur Flucht in den Schatten der Bank mit dem Wasserrohr. Sein dünner Strahl plätscherte in ein Becken aus Sandstein, versammelte sich in einer kleinen Pfütze, um dann in einem eisernen Ausfluss zu verschwinden. Ich streckte die Beine aus, schloss die Augen, glaubte den Klang einer Saz zu vernehmen. Ein Kinderlachen wehte durch den Innenhof, wurde mitgenommen von dem Gurgeln des Wassers im Abfluss.
„İstanbul’u dinliyorum, gözlerim kapalı“, flüsterte eine Frauenstimme. Ich schlug die Augen auf, blickte durch den Hof. Keine Seele eines Menschen. „Zuerst weht ein leichter Wind.“ Die Stimme kam aus dem Rohr, floss Kaskaden gleich in das Becken. Meine Hände anfeuchtend kühlte ich mein Gesicht, schickte ich meinen Blick auf Wanderschaft. „Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen. In der Höhe die Schreie der Vögel, die in Scharen fliegen“, summte es aus den Blüten der Bougainvillea. Ich wollte mich erheben, wollte suchen, meine versuchte Bewegung misslang. Mein Körper schien mit der Bank verwachsen zu sein. „İstanbul’u dinliyorum, gözlerim kapalı;“ hauchte es in mein Ohr. Ich folgte der Aufforderung, meine Augenlider senkten sich, meine Gedanken verloren sich aus der Realität. „In der Ferne, in der weiten Ferne das stetige Klingeln der Wasserverkäufer. Ich höre Istanbul zu, meine Augen sind geschlossen.“ Die Uhr im Glockenturm schlug zitternd drei kurze und vier lange Schläge, deren leiser Klang an den Mauern zerbrach und in mein Ohr flüsterte. „Yükseklerden, sürü sürü, çığlık çığlık. Ağlar çekiliyor dalyanlarda; Bir kadının suya değiyor ayakları.“ Mit leisem Knirschen öffnete sich die Kirchentür, Staub tänzelte in den Strahlen der Sonne, webte einen feinen Teppich auf den Boden.
Zaghaft erhob ich mich, tastete mich mit der Hand die Mauer entlang, suchte im Schatten der Mauer meine Schritte. Zart, fast nicht zu vernehmen, ein Hauch nur, wie der Schlag eines Schmetterlings, wehte es aus dem Innern des Gebäudes. „Ich weiß nicht, ob deine Stirn warm ist oder nicht; Ich weiß nicht, ob deine Lippen nass sind oder nicht; Ein weißer Mond geht hinter den Nussbäumen auf. Ich merke es an deinem Herzschlag.“
Ein rotweißer Ball titschte mehrmals auf, drehte sich um seine eigene Achse und kullerte in den schmalen Graben zwischen Mauer und Brunnen. „Anne, Anne“, rief der Junge, der durch den Spalt, der den Hof von Straße trennte und lief mit ausgestrecktem Arm auf den Ball zu. Seine Mutter hastete ihm hinter her. Ich nahm dem Ball auf und reichte ihm dem Kind. Die Mutter trat hinter ihren Sohn und schaute mich mit warmen Augen freundlich an. „Teşekkür ederim“, sagte sie mit einem kleinen Lachen um ihren Mund. „Bir şey değil“, lächelte ich zurück. Ich folgte den Beiden auf die Straße.
Der Taxifahrer sah müde aus, ich war wohl seine letzte Fuhre nach einer langen Nachtschicht. Die Rechner in den Moscheen waren noch nicht angesprungen, um den Ruf der Muezzine über die Stadt zu tragen. Ein Rudel herrenloser Hunde balgte sich um den Inhalt einer umgestürzten Mülltonne. Die Stille in den Straßen wurde nur durch das Brummen und Kreischen der Kehrmaschinen unterbrochen. Hinter dem Hügel von Fenerbahçe mit seinem Wildwuchs aus Antennenmasten lugten die ersten Strahlen der Sonne hervor, lechzten nach dem Wasser des Bosporus. Der frühe Flieger zurück war mir immer Verdruss und Bequemlichkeit zugleich gewesen. Frühes Aufstehen und als Belohnung schnelles Erreichen des Flughafens. Trotz des missbilligenden Blicks des Chauffeurs kurbelte ich ein Fenster runter, saugte die nach Salz, Wasser und Fisch riechende Luft ein.
Am Flughafen herrschte mäßiges Treiben. Der Beamte an der Kontrolle schob mir mit müdem Blick meinen Pass zurück. Der Pilot schaltete auf Volllast, die Düsen heulten auf, der Schub drückte mich in meinen Sitz. Das Große wurde immer kleiner, die ersten Wölkchen wirbelten auf den Tragflächen. Die Motoren gingen in monotones Summen über. Ich lehnte meinen Kopf an die Stütze des Sitzes, schloss die Augen: Ich hörte Istanbul.
Diese Impression basiert auf dem Gedicht „Ich höre Istanbul / İstanbul´u dinliyorum“ von Orhan Veli (1914 – 1950).
Text: Werner Felten
Bilder: Tolga Aksüt