Christiane Schlötzer war über 10 Jahre Korrespondentin für die Süddeutsche Zeitung in Istanbul. Ende des Jahres 2021 erschien ihr Buch „Istanbul – ein Tag und eine Nacht: Ein Porträt der Stadt in 24 Begegnungen“. Durch die Geschichten unterschiedlichster Bewohner*innen Istanbuls entwirft die Autorin ein interessantes Mosaik der Stadt am Bosporus, das die Metropole in all ihrer gesellschaftlichen wie historischen Vielfalt zeigt. Im Sommer 2022 stellte sie das Buch in der deutsch-türkischen Buchhandlung in Istanbul vor. Auch einige der im Buch porträtierten Personen waren im Publikum. Anschließend traf Maviblau sie für ein Interview, hoch oben über der Stadt.
Maviblau: Frau Schlötzer, 2001 kamen Sie als Korrespondentin nach Istanbul und meinten bei der Lesung, die Stadt habe Sie damals mit dem Leben versöhnt. Nun sind Sie 20 Jahre später wieder hier – hat Istanbul diese Gabe noch immer oder welchen Einfluss hat die Stadt heute auf Sie?
Immer wenn ich hierher zurückkomme, habe ich das Gefühl, ein Stück nach Hause zu kommen. Ich liebe die Lebendigkeit dieser Stadt – sie haucht einem Leben ein. Ich weiß natürlich, dass es nicht einfach ist, hier zu leben. Ich habe ja selbst viele Jahre hier verbracht, allerdings mit dem Privileg, eine europäische Ausländerin zu sein. Und das heißt auch mit einem Pass, der es einem jederzeit erlaubt, das Land zu verlassen, und einen überall hinreisen lässt. Aber trotzdem habe ich mich hier meistens wohl gefühlt. Die Vielfalt und die Überraschungen, die die Stadt bietet, allein bei einem Gang durch die Straßen – das fasziniert mich immer wieder.
Maviblau: Ihre Beziehung zu dieser Stadt begann bereits früher, und zwar 1981. 40 Jahre später haben Sie dieses Buch geschrieben. Was hat Sie bewogen, es ausgerechnet jetzt zu schreiben?
Das Buch ist eine Summe von Erfahrungen, die ich gemacht habe. Nicht alle Menschen, die darin vorkommen, habe ich in diesen 40 Jahren kennengelernt, sondern manche davon erst in letzter Zeit. Ich wollte die Zeit porträtieren – eine Zeitgeschichte durch Menschen schreiben, da Menschen Geschichte machen und eine Stadt ausmachen. Mein Ziel war es, durch die Erzählungen, die die Menschen mir anvertraut haben, ein Stück der Geschichte Istanbuls, aber auch der ganzen Türkei, der letzten zwei Jahrzehnte zu schreiben.
Maviblau: In der Lesung stellten Sie ebenfalls fest, dass das einzig Konsistente an Istanbul der Wandel sei. Würden Sie in diesem Sinne Ihr Buch als Momentaufnahme oder Resümee betrachten?
Einerseits ist es eine Momentaufnahme. Aber nachdem alle Erzählenden auch zurückblenden, manchmal bis zum Anfang ihres Lebens, hat es andererseits auch einen Zeithorizont und ist damit eine historische Erzählung. Das Buch ist insofern eine Momentaufnahme, als dass Ereignisse weitergehen. So kommt beispielsweise Osman Kavala vor, der jetzt im Gefängnis sitzt und wir wissen nicht, was nächstes Jahr sein wird. Es gibt andere Menschen in dem Buch, die gerade an Auswanderungen denken. Andere sind aus Deutschland nach Istanbul zurückgekehrt. In dieser Stadt gibt es eine ständige Bewegung und nichts ist eben so stet wie der Wandel – das war früher bereits so. Ich kenne keine Stadt in Europa, die sich so schnell verändert.
Maviblau: Sie sprechen gerade auch von den verschiedenen Figuren in Ihrem Buch, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. Gibt es über Istanbul hinaus ein verbindendes Element zwischen diesen Schicksalen?
Eine große Rolle spielt die Migration. Viele dieser Menschen sind innerhalb der Türkei migriert: von Ostanatolien oder vom Schwarzen Meer nach Istanbul, immer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Andere sind mit dieser Hoffnung oder Notwendigkeit nach Deutschland oder andere Länder migriert und in manchen Fällen wieder zurückgekommen. So entsteht ein ständiges Hin und Her. Jedes dieser Schicksale ist von Bewegung geprägt. Ein einziger der Porträtierten entstammt einer alten Istanbuler Familie – aber das ist eben sehr selten.
Maviblau: In das Buch haben Sie alte Freund*innen und Bekannte aufgenommen, aber auch neue Persönlichkeiten kennengelernt. Wie kamen diese Treffen zustande?
Ich wollte ungefähr gleich viele Männer wie Frauen, verschiedene Herkünfte, unterschiedliche Berufe und soziale Schichten im Buch haben – und damit ein vielfältiges Porträt schaffen, wie einen kelim, bei dem verschiedene Farben miteinander verwebt werden. Dabei dachte ich dann, wie schade es sei, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Ich hätte gerne noch mehr Menschen porträtiert. Jedenfalls steht jede Stunde für eine Geschichte, das mag an manchen Stellen vielleicht etwas konstruiert sein. Bei dem Koch war es ganz einfach, er steht für die Mittagszeit um 12 Uhr. Aber ich habe auch eine Hundertjährige, die Professorin und Journalistin war. Ich habe ihr dann Mitternacht zugeteilt, da sie meinte, sie könne nicht schlafen und wache immer um diese Zeit auf und beginne wieder zu lesen.
Maviblau: Die Frau, die Sie eben beschreiben, heißt Nermin Abadan-Unat. Sie und auch die italo-griechische Jüdin Ethel Rizo stehen für das vergangene Istanbul. Inwiefern ist das Buch auch ein Versuch, Erinnerung oder narrative Geschichte festzuhalten?
Das ist eine wichtige Frage. Ich habe versucht, die Geschichte der Stadt festzuhalten. Deshalb heißt auch eines der Kapitel „Eine frühe Mahnung, die Geschichte der Stadt nicht zu vergessen“. Es ist das Kapitel mit Ethel Rizo, deren Wurzeln weit verzweigt sind und deren Leben sich zwischen Deutschland und Istanbul bewegte, aber die selbst über sich sagt, dass sie hauptsächlich Istanbulerin sei. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass so etwas nicht in Vergessenheit gerät, denn zum Gewebe dieser Stadt gehören die einstigen Minderheiten und die Vielfalt. Natürlich haben wir heute eine andere Gesellschaft, aber es ist eben wichtig, das nicht zu vergessen – und zwar weil es die Basis für eine offene Gesellschaft ist, in der wieder andere Menschen integriert werden. Und fremde Menschen zu integrieren, bewältigt Istanbul wiederum gut, zumindest bis zu einem gewissen Grad.
Maviblau: Wie steht es um die Erinnerungskultur in der Türkei heute – auch in Bezug auf ihre vielfältige Vergangenheit?
Mit der Erinnerungskultur ist es generell schwer in der Türkei. Die Dinge, die nicht gern erinnert werden – Vertreibungen, Massaker –, sind schwierig. Es gibt Menschen, die erinnern, zum Beispiel die armenische Geschichte. Der Journalist Hrant Dink war so ein Mann. Er war Armenier und Türke und wollte sich nie aus der Türkei vertreiben lassen, wurde dann allerdings 2007 ermordet. Es gibt nun allerdings viele Menschen, die die Erinnerung an ihn und seine Leistungen pflegen. Auf diese Weise gibt es eine „lebendige“ Erinnerungsstätte, die das heutige Leben miteinbezieht, wie er es auch gewünscht hatte. Viele Menschen pflegen die Erinnerung, aber es ist sicherlich nicht die Mehrheit.
Maviblau: Man erkennt, dass Ihr Buch wichtige Themen behandelt. So wird gerade bereits die zweite Auflage gedruckt. Woher kommt das große Interesse an diesen Themen, Istanbul und der türkischen Geschichte?
Ich glaube, die Türkei ist für viele deutsche Leser ein Rätsel und bleibt es auch für die Menschen, die sie gut kennen – und das schließt mich selbst mit ein. Ich lerne weiterhin dazu und habe immer noch offene Fragen. Vermutlich wollen Menschen, die einmal hier waren, oder einen sonstigen Bezug haben, dieses Buch lesen. Und natürlich gibt es viele Menschen mit einem deutsch-türkischen Hintergrund, die neugierig sind und mehr über dieses Land wissen wollen. Hinzu kommt auch, dass es eine Zeit gab, ungefähr Mitter der 2000er, in der gerade Istanbul ein Anziehungspunkt war. Man hat sogar vom zweiten New York gesprochen. Menschen kamen, um in die Clubs und Bars zu gehen. Es war eine Zeit der Öffnung. Heute haben wir eine andere Zeit, die das Ergebnis vieler Ereignisse – wie dem Putsch aber auch der Pandemie – ist. Im zweiten Falle haben die Menschen die Stadt verlassen und kommen jetzt nicht mehr zurück. Ich denke allerdings, dass es besser ist, zu kommen, anstatt fernzubleiben. Bei manchen hat das Buch auch wieder eine Sehnsucht ausgelöst und sie dazu bewegt, zurückzukommen.
Maviblau: Ein Reisender kommt zum ersten Mal nach Istanbul. Welche Person aus Ihrem Buch würden Sie ihm oder ihr an die Hand geben?
Das ist eine schwierige Frage. Es hängt vielleicht vom Alter des Besuchers ab. Einer kennt die Stadt besonders gut, und zwar Akin Aktin. Er hat eine lange Familiengeschichte in Istanbul. Er kennt jedes Haus im Zentrum von Istanbul. Er wäre ein fantastischer Stadtführer.
Maviblau: Glauben Sie an einen zweiten Frühling der Stadt?
Ich glaube, dass das immer möglich ist. Eben weil diese Wandelbarkeit da ist. Die Türkei ist immer überraschend. Es kann immer etwas passieren, woraufhin sich alles ändert. Es kann etwas schreckliches passieren – wie zum Beispiel das lang erwartete Erdbeben in Istanbul. Es gab immer wieder Ereignisse in der Türkei, die sehr vieles geändert haben. Ich glaube sogar, dass Istanbul jetzt bereits ein wenig zurückkommt. Es werden wieder mehr kulturelle Ereignisse angeboten. Und die Neugierde auf die Stadt wächst damit wieder.
Autor: Daniel Schwahn
Grafik: Seda Demiriz
Foto: Umut Koyulhisarlı