Es ist fast zwei Jahre her, dass ich zum ersten Mal in die Türkei kam. Sicherlich ist das nichts Besonderes. Wahrscheinlich waren die meisten, die diesen Text hier lesen, schon in der Türkei. Wer hier war, kennt den elektrisch verzerrten Aufruf zum Gebet, welcher fünfmal am Tag durch türkische Dörfer und Städte hallt. Auch ich lernte ihn kennen, als ich zum ersten Mal nach Istanbul kam. Diesen merkwürdig faszinierenden und abstoßenden Sprechgesang. Faszinierend, weil Rhythmus und Melodie anziehend wirken. Abstoßend, weil die Übertragung über Lautsprecher dem an sich schönen Klang des Ezans, wie der Gebetsruf in der Türkei heißt, deutlich schaden.
Das Gebet ist besser als Schlaf
Schnell gewöhnte ich mich an diesen Sound Istanbuls. Er wurde Alltag für mich. Ich kümmerte mich genauso wenig darum, wie um das Läuten der Glocken in meiner alten Heimat. Erst vor ein paar Wochen, als der Ruf zum Gebet wieder einmal durch die geöffnete Balkontür in mein gottloses Wohnzimmer schallte, fragte ich mich, was dort überhaupt gerufen wurde. Immerhin wusste ich, dass der Text arabisch ist. Die Türkisierung, mit ihrer Forderung nach türkischen Gebeten und einem türkischen Ezan, hatte sich nicht durchgesetzt. Eine kurze Suche im Internet lieferte mir eine Übersetzung und eine Erklärung. Oder waren es nicht sogar mehrere Erklärungen? Denn je nach islamischer Ausrichtung, wandelt sich der Gebetsruf. Nur die Schiit*innen rufen zum ‘besten Werk’ und nur die Sunnit*innen sind es, die jeden Morgen feststellen, dass ein Gebet besser ist als Schlaf. Alevit*innen hingegen rufen gar nicht.
Islam in der Türkei
Aber der Reihe nach. Wenn wir von den muslimischen Gläubigen in der Türkei sprechen, ist das gar nicht so einfach. Zwar zählt man gut 98% der türkischen Bevölkerung zum Islam, doch davon sind schätzungsweise 15-25% Alevit*innen. Der Fairness halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass Atheist*innen nicht in den Statistiken auftauchen. In jedem Fall bilden die Sunnit*innen die Bevölkerungsmehrheit und nur auf sie lässt sich der Gebetsruf zur türkischen Moschee anwenden. Der sunnitische Ezan beinhaltet in der Türkei sieben einzelne Zeilen, von denen die erste („Gott ist groß“) viermal und die letzte („Es gibt nichts außer Gott zum Anbeten”) einmal gerufen werden. Alle anderen erklingen doppelt. Nur zum Morgengebet wird die oben erwähnte Zeile “Das Gebet ist besser als Schlaf” hinzugefügt. Grob aufteilen lässt sich der Ezan in zwei Bereiche. Die Zeilen vier bis sechs handeln vom eigentlichen Aufruf, zur Moschee und damit zum Gebet zu eilen. Zeile zwei (“Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Allah”) und drei (“Ich bezeuge, dass Mohammed Allahs Gesandter ist”) bilden das islamische Glaubensbekenntnis.
Fünf Säulen tragen den Islam
Das Glaubensbekenntnis wird im Türkischen Şehadet genannt. Wer sich mit Überzeugung zu Gott und Mohammed bekennt, ist eine Muslima oder ein Muslim. Im Islam ist kein besonderes Ritual, wie zum Beispiel eine Taufe, nötig. Allein die Aussprache des Glaubensbekenntnisses reicht aus. Doch wer sunnitischen oder schiitischen Glaubens ist, wird auch angehalten, den islamischen Hauptpflichten zu folgen. Hier kommen die fünf Säulen des Islams ins Spiel.
- Şehadet, das Bekenntnis
- Namaz, das Pflichtgebet
- Zekat, die Almosengabe
- Oruç, das Fasten im Ramazan
- Hac, die Pilgerfahrt nach Mekka
Von diesen haben wir die erste Säule gerade kennengelernt. Auch um den Fastenmonat ging es bereits im Artikel “Ramadan: Çok Şekerli – Für ein süsses Leben”. Es fehlen also noch drei weitere Säulen. Dazu zählt das Pflichtgebet. Es ist für sunnitische Gläubige in der Türkei fünfmal täglich verpflichtend. Als besonders wertvoll gilt ein Gebet, welches in der Moschee verrichtet wird. Daher auch der fünfmalige Gebetsruf an jedem Tag. Mit der Almosengabe will die islamische Gemeinschaft ihre schwächeren Mitglieder unterstützen. Dies kann durch Armenspeisung oder Geldspenden geschehen. Die Pilgerreise sollte von allen Gläubigen einmal in ihrem Leben angetreten werden, sofern sie in der Lage dazu sind. Ziel ist die Stadt Mekka in Saudi Arabien. Denn hier steht die Kaaba, die siebenmal umrundet wird.
Hadithe leiten den “richtigen” Glaubensweg
Doch was bedeuten diese Hauptpflichten eigentlich und woher kommen sie? Die Antworten auf diese Frage findet man nicht im Koran. Denn für die religiöse Praxis im Islam sind die Überlieferungen vom Leben des Propheten, die sogenannten Hadithe, ebenfalls eine sehr wichtige Quelle. In ihnen wird von Taten und Aussagen Muhammeds berichtet. Wichtig ist jeweils, dass die Überlieferung gesichert ist. So hat jeder Hadith eine ganze Kette an Überlieferern, der die Glaubwürdigkeit des eigentlichen Inhalts bestätigen soll.
Der Gabriel-Hadith ist für das Verständnis der fünf Säulen besonders wichtig. In ihm wird die kurze Geschichte erzählt, in dem die Gefährten beim Propheten saßen und ein Mann zu ihnen kam. Dieser Mann fragte den Gesandten nach der Bedeutung des Wortes Islam. Und Mohammed soll geantwortet haben: “Islam ist, dass du bezeugst, dass es keinen Gott gibt außer Allah, und dass Muhammad der Gesandte Allahs ist, dass du das Gebet verrichtest, die Zakāt gibst, im Ramadan fastest und zum Hause pilgerst, wenn es dir möglich ist.” Als der Mann wieder gegangen war, soll der Prophet ihn als den Erzengel Gabriel bezeichnet haben. Daher auch der besondere Name dieses Hadithes.
Es ist wohl doch nicht so einfach
Aus der Zusammenfassung des Propheten leiten die Sunnit*innen heute ihre fünf Hauptpflichten ab. Aus anderen detaillierteren Hadithen erfahren sie, wie diese einzelnen Pflichten genau zu verstehen sind. Manchmal gibt Mohammed Anleitungen. Zum Beispiel, wie und wann ein Gebet zu verichten sei. An anderer Stelle bedarf die jeweilige Handlung einer Interpretation von Gelehrten.
Dass diese sich nicht immer einig sind, kann man schon bei der allgemeinen Frage nach den Pflichten ableiten. Wie bereits erwähnt, gibt es einige große Unterschiede zwischen den islamischen Glaubensrichtungen. Aber auch innerhalb einer Gemeinschaft beantworten viele Gelehrte die Frage nach dem Inhalt von Islam unterschiedlich. Sie sind häufig der Meinung, dass alle Pflichten, die sich auch aus dem Koran ableiten lassen, ein Teil des Islams seien. Daher auch die Unterscheidung zwischen einfachen Pflichten und den in diesem Text beschriebenen Hauptpflichten.
Denn aus allen Schriften, zu denen auch Tora und Bibel zählen, lassen sich noch zahlreiche Verbote und Gebote ableiten. Wenn beispielsweise Speisevorschriften und der Glaube an Engel auch nicht im Gabriel-Hadith vorkommen, so besteht der Islam eben doch aus mehr, als nur den fünf Säulen. Islam scheint, für mich als Aussenstehenden, ein stetiger Prozess zu sein. Eine ständige Diskussion über die richtige Lebensweise. Gottgefällig wollen alle Gläubigen leben, doch wie das im Einzelnen aussieht, ist mitunter sehr verschieden.
Während ich nun die letzten Zeilen dieses Beitrags schreibe, dringt ein arabischer Ruf durch die geschlossenen Fenster an mein Ohr. “Auf zum Gebet. Auf zur Seeligkeit.” Ich ziehe mir meine Schuhe und meine Jacke an. Als ich gerade die Tür hinter mir abschließe, höre ich noch die Worte “Es gibt nichts außer Gott zum Anbeten”. Ich mache mich auf in Richtung Taksim. Eine meiner Lieblingsbands spielt dort heute Abend ein Rockkonzert.
Text, Bilder und Video: Navid Linnemann
Redaktion: Yasemin Bodur