Die Lyrikerin Lütfiye Güzel erntet Anerkennung, wo immer sie einen Fuß hinsetzt. Und endlich auch die, die sie verdient. Für Maviblau liest sie am 24. Mai in der Hamburger „Honigfabrik“ bei IstanbuLyrik 2018.
Lütfiye Güzel – geboren 1972 in Duisburg – hat Ende 2017 den Hauptpreis des Literaturpreises Ruhr in Herne gewonnen, einen der renommierten und mit 10.000 Euro dotierten nordrheinwestfälischen Literaturpreise. Binnen fünf Jahren erscheint nun bald ihr 11. Buch im Selbst-Verlag go-güzel-publishing: NIX MEER – Eine Episode.
Wie konnte das im November 2017 passieren? Ausgerechnet ihr, der Dichterin ohne festen Verlagswohnsitz. Der freien Radikalen unter den weiblichen lyrischen Stimmen in der Bundesrepublik. Einer Stimme, die seit geraumer Zeit die Szene zwischen Berlin und Köln, Hamburg und Freiburg begeistert und deren unprätentiöser Vortrag oftmals als einziger im Gedächtnis bleibt. Die Antwort ist denkbar einfach: Eine deutsche Literaturpreis-Jury hat das enorme Potential einer Autorin erkannt, die in ihren besten Jahren an einem Oeuvre feilt, das, bei aller Abgedroschenheit des Begriffs, als authentisch bezeichnet werden darf. Vielleicht liegt für einige zudem der Verdacht nahe, dass der Preis mit der Betonung auf die elterliche Herkunft der Ausgezeichneten verliehen wurde. Zumal im Pott. Dass ihr – ketzerisch formuliert – ein literarischer Integrationsauftrag zugute kommt, der die Fernstrahlung einer Preisvergabe mit ins Kalkül zieht in Zeiten, in denen migrantische Jugendliche immer häufiger den Bemühungen der Überreste deutscher Sozialpolitik verloren zu gehen drohen.
Und wenn es so wäre? Dann hätte es erst Recht die Richtige getroffen. Aber nicht wegen ihrer Herkunft. Und nicht, weil sie – pädagogisch wertvoll – Poetry-Workshops in Schulen und Museen anbietet. Mit Lütfiye Güzel wurde eine Autorin ausgezeichnet, deren Werk seit Jahren eine intensive Stringenz und Tiefe aufweist. Es wurde ebenso – und dies ist nicht unwesentlich zu sagen – eine Protagonistin alternativer Publikationsformen geehrt. Eine mutige Macherin, deren Credo – ein Maximum an Entscheidungshoheit besitzen – keiner verletzten Eitelkeit durch vorangegangene Kränkungen im Literaturbetrieb geschuldet ist. Sie macht es einfach schon immer so, wie sie es macht. Zwar sind ihre ersten drei Bücher noch in der Duisburger Dialog-Edition erschienen (herz-terroristin; 2012, Let´s go Güzel; 2013 und Trist Olé!; 2013): Doch seit dem Ende dieser Zusammenarbeit startet Lütfiye Güzel in Eigenregie durch. Und da sie alternative Publikationsformen schätzt, werden zwischen zwei neuen Büchern auch mal Texte auf einzelnen Blättern als Handzettel in Butterbrottüten (ELLE-REBELLE, handzettel, 2017) herausgebracht, neue Gedichte als Aufkleber produziert (`selfklebend´, 19 Gedichte, 2018) oder im erweiterten Back-Katalog ein älterer Titel als CD-Hörbuch (homerecorded!) von ihr persönlich eingelesen (hey anti-roman, 2015).
Mit Lütfiye Güzel ist in Herne nun also eine Dichterin ausgezeichnet worden, die sich auf genau die Weise als Autorin zu erschaffen durchgesetzt hat, die ihr passt. Das ist weder hoch genug zu schätzen noch selbstverständlich in einer Branche, die im belanglosen Großen (mitnichten Ganzen) vom ständigen „Remake“ des Erfolgreichen lebt. Insofern ist dieser Text auch eine Danksagung und Laudatio auf eine Jury.
Als Gesprächspartnerin beweist Güzel einen feinen Sinn für einen Betriebshumor, der staubtrocken und gallig um die Ecke kommt. Sie kann erfrischend komisch. Angesichts der Schwergewichte und ExpertInnen, bei denen sie in Sachen Untergangsstimmung in die existentielle Poesie-Schule gegangen ist, durchaus bemerkenswert. Denn es ist wahrlich nicht einfach, das mit dem Komischen angesichts des Tragischen. Dass Komik zuweilen dennoch durchbricht in ihren Texten, unterscheidet sie maßgeblich von den Myriaden öder deutscher Mängel-PoetInnen, die die deutschsprachigen Texte-Schlachtfelder als lyrische Verkehrsschilder säumen. Beispiel gefällig?
komisch / dass man weitergeht / wenn einer atmet / & stehen bleibt / wenn einer tot ist. (aus: wenn einer tot ist, erschienen in: trist olé!, 2013)
Oder:
In der Zweiten Klasse fahren Menschen. / In der ersten fahren Sitze. (aus: pinky helsinki, 2014)
So sieht’s nämlich aus. Doch bei allem zuweilen sardonischen Humor: Fernando Pessoa heißt ihr persönlicher Bibel-, Thora- und Koran-Schreiber in einer Person. Darauf hinzuweisen legt sie Wert. Pessoas lebenslange Melancholie, seine intrapsychische Verfassung – nicht seine handwerkliche – ist auch Lütfiyes Voraussetzung für alles, was sie an Literatur hervorbringt. In manchen ihrer Gedichte, die Fado und Saudade atmosphärisch in ihren Zeilen wiegen, bezieht sie sich unmittelbar auf diese mentale Erbfolge Portugals. Werkstattliterarisch – insbesondere in ihren „harten Gedichten“ – mag sie Bukowski und dessen sarkastischen Alltagsbetrachtungen näher stehen; er wird gern erwähnt, wenn es darum geht, eine Marke zu setzen, die Güzels Schreibe in einem Wort erklärbar machen soll. Doch der Vergleich mit Buk fasst viel zu kurz, natürlich. Er hinkt sogar. Denn da ist eine größere Verletzung in ihren Texten, ein anderer Ton als in der gnadenlos gezimmerten Schweißschmerz-Testosteron-Prosa des Amerikaners. Eine basale „portugiesische“ Verletzung, die bisweilen in eine undurchschaubare Mischung aus Pathos und Ironie mündet:
in mir gehört nichts dahin wo es hingehört / die verlorenheit ist zusammengetackert und zwischen / zwei laminierte / kartonseiten verpackt / so ist das wenn träume alt sind / und sie hier vorn / sie wissen nicht was diese zeilen mich kosten. (aus: hey anti-roman, 2015)
Distanz ist das Zauberwort. Distanz zu den anderen, Distanz zu sich selbst und zu einer Welt, die keinen anderen Halt zu bieten scheint, als den, dessen man sich in ihr schreibend versichert. Mehrfach erscheint ein Publikum in ihren Texten als geisterhafte Staffage und wird dennoch direkt angesprochen. Doch nur zum Zweck einer weiteren Möglichkeit zur Distanznahme, als Variable für etwas da draußen, dem gegenüber es als Autorin und Mensch unbedingt Abstand zu wahren gilt. Der Literaturbetrieb als Ungeheuerlichkeit lugt bis in ihr konkretes literarisches Schaffen.
Angst ist ein weiterer Schlüsselbegriff zur Ausgangslage dieses Schreibens. Beobachtete Angst, eigene und im Schreiben gebändigte Angst:
ein schiff wird kommen / raus aus diesem land / will nicht undankbar sein / im vergleich ist es sicher / frei irgendwie / noch / kühlschränke & die / möglichkeit / sie zu füllen / keine straßenkämpfe / noch nicht / umso erstaunlicher die angst / sie klebt fest / an der fensterscheibe im bus (aus: herz-terroristin, 2012)
Nicht oder nur ungefähr zu wissen, wohin man gehört, die Leere des Dazwischen, die Verlorenheit angesichts des Wissens, das sind die lyrischen Sujets, deren spätmoderne Bearbeitung durch Güzel einer bleischweren Tradition philosophischer Belletristik folgt. Und dennoch klingen und schwingen in ihrer Lyrik die Folgen von Entwurzelung häufig mit, auch wenn das lyrische Ich diesen Verlust einer inneren Orientierungslosigkeit keiner Quelle subjektiver Erfahrung, dafür einem universal gültigen Phänomen menschlicher Verlorenheit zuzuordnen gewillt ist.
vater meint noch: – behalte deinen pass / hier sind wir immer fremd – / aber mein fremdsein hat nichts mit dokumenten / zu tun / für jemanden wie mich gibt es kein land (aus: gedicht 3, erschienen in: hey anti-roman, 2015)
Manche ihrer Gedichte atmen den enttäuschten Stolz eines hochsensitiven Wahrnehmungsapparates, der sich für gar nichts vereinnahmen lassen will. Dann wieder scheint vorstellbar, diese entschieden solitäre Seele sei in gewissem Sinn postromantisch verfasst. Die, die sie wollen könnten, (die „echten“ Menschen, die abstrakten Leser, die Szene, der Literaturbetrieb und sein Markt) will sie nicht. Und wie es umgekehrt und auf einer zutiefst menschlichen Ebene ist, können wir nur ahnen. Paradoxien säumen dieses Werk zwischen Ekel und Sehnsucht. Güzels Lyrik erhebt kaum einmal eine einem Du zugewandte Stimme. Und wenn sie es doch einmal tut, ist am Ende nicht sicher, ob sie ein konkretes Du oder nur ein gespiegeltes Ich anspricht. Noch seltener schwingt diese Stimme sich zu einem Wir auf. Auch darum: mit Pessoa hat dieses monologisierende „Sprechen“ etwas viel Elementareres gemeinsam als mit Charles Bukowski. Eine bis ins Schmerzhafte das innere Denken nach außen stülpende (und es dann noch sezierende) radikal-existentielle Subjektivität, die das Gesetzmäßige im erlebten Chaos sucht. In einer derartigen Haltung, einer solchen wie der ihrer Brüder im Geiste – Thomas Bernhard, E.M. Cioran, Nitzsche – steckt Hochkaräter-Literatur. Aber was soll der ganze Quatsch!
es ist bequem im vergleich / aber das größte elend steckt im vergleich (aus: hey anti-roman, 2015)
Eben! Wer braucht einen Vergleich? Wir haben Lütfiye Güzel, eine originäre Stimme innerer Verfasstheit, die sich mittels Sprache selbst entwirft inmitten unserer grundverwirrt-korrumpierten Gesellschaft. Eine Stimme, die der bodenlos lachhaften Absurdität unserer Lebensentwürfe, die sich um Arbeit und Nichtbegegnung in einem großen Meer verantwortungsloser Freiheit ranken, nichts entgegen zu setzen weiß als ihre romantisch-metallischen Alltags-Anatomien, unbequeme Spiegelschriften an den Rändern von Sichtbarkeit und Blindheit.
Lütfiye Güzel ist auf einem steinigen Weg. Es ist der einzige, den sie gehen kann. Ihr “Branding“ ist ihre Uneinnehmbarkeit. Preise machen da das Berufsverweigern nicht gerade einfacher. Manchmal bringt es die Preisgekrönten dadurch zum Verstummen. Die Preisverleihung als geschickt gefädelte Einschmeichlung gegen das Aufbegehren des Ausgezeichneten:
einen scheck bekommen / für meine hartnäckigkeit / mein anderssein / meine rebellion / & vielleicht auch / für meine gedichte (aus: “selfklebend” – 19 Gedicht-Aufkleber, 2018)
Sollte eines Tages ein Verlagsangebot herein flattern, das sie trotz ihres Sträubens nicht ausschlagen mag, wird sie diese Probe aufs Exempel aller Wahrscheinlichkeit nach bestehen; gegen alle Versuche, sie zu etablieren und zu vereinnahmen. Bis zu diesem Angebot, das kommen oder ausbleiben mag, erwarten wir noch einige Bücher aus ihrem Eine-Frau-Verlag. GO Güzel. GO! So oder so.
Text: Andreas Richartz, Mitherausgeber/Redakteur beim Null22Eins-Magazin
Titelfoto: privat
Fotos: Tolga Aksüt