E-Gitarren-Sound, bauchfrei, Glitzer, Netz – Elma, Gül und Hazal stürmen auf die Bühne. Die drei Mädchen, in deren Leben, in deren Gedankenwelt wir im Laufe des Abends (2 Stunden, 10 Minuten) tiefe Einblicke erhalten werden, die wir nach wenigen Minuten in eine Schublade stecken, die uns überraschen und schocken werden.
Alrun Hofert als Elma, Henriette Nagel als Gül und Anica Happich als Hazal geben der Inszenierung von Regisseur Dariusch Yazdkhasti ihre mitreißende Dynamik: Aller guten Dinge sind drei, Girls run the world, spürbar die unglaubliche Kraft der Figuren – die in Fatma Aydemirs Debütroman “Ellbogen” komplett für die alltäglichen Kämpfe draufgeht.
Es sind noch wenige Tage bis zu Hazals 18. Geburtstag. Hazal ist getragen von der Hoffnung, dann endlich mehr vom Leben zu bekommen als sinnlose Bewerbungstips in der „berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme“, kostenlos Kiffen beim “Opfer” Eugen und Streit mit ihrem jüngeren Bruder Onur. Auch wünscht sie sich, Mehmet, den sie bei Facebook kennengelernt hat und der in Istanbul lebt, endlich real zu treffen. Immerhin hat er sie gefragt, ob sie sein Baby sein will…
Gerüche wabern von der Bühne in den Zuschauerraum: Zigarettenrauch, Anti-Frizz-Haarspray, Deo, Nebelmaschine im Club – von allem zuviel, “drüber”. Genau so werden die drei wahrgenommen von den Ärztetöchtern und Kaufhausdetektiven, mit denen sie aneinandergeraten. Die drei Unzertrennlichen rasen über die Bühne, durch den Papiervorhang, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, im Zuschauerraum wird viel gelacht. Immer wieder gerät die vierte Wand ins Wanken: Gül, Elma und Hazal lachen sich nicht nur schlapp über die Zuschauer*innen, sondern diese müssen auch als türkische Großfamilie herhalten (inklusive Kopftuch und Anklebeschnurrbart!) oder beobachten, wie die drei die Mäntel in der Garderobe draußen durchwühlen und über den Spießerlook ablästern.
Mit Life-Camera und vorproduzierten Filmsequenzen im Spiel wählt Yazdkhasti eine adäquate Theatersprache, um die Lebenswelten der Mädchen auf die Bühne zu bringen. Dass die Vorlage ein Roman ist, bleibt deutlich erkennbar. Geschmackssache sicherlich – der Energie der Inszenierung tut es keinen Abbruch.
Die Liebe und die Albernheit, der Zusammenhalt der drei lassen eigentlich nur fragen: Was genau haben (nicht nur türkisch sozialisierte) Teenager-Eltern dagegen einzuwenden, dass ihre Töchter ein bisschen Spaß haben? Und das bisschen Klauen im Kaufhaus geht doch auch vorüber… Der Punkt, an dem die Frage hinfällig wird, an dem sich alles ändert, kommt. Hazals Geburtstagsnacht, in der den dreien der Eintritt in den Club verwehrt wird, nimmt eine krasse Wendung. Es erinnert an Sebastian Schippers legendären Film “Victoria”, wie sich die Ereignisse aneinanderreihen, die sich schließlich zu einer nie erwarteten Eskalation multiplizieren.
Im zweiten Teil des Stückes ist Hazal allein – und lässt allein. Keine zu dritt artikulierten Textpassagen mehr, keine Glitzerklamotten. “Ich wäre jetzt so gerne in Istanbul”, sagte sie zuvor und sprach über eine Stadt, die sie noch nie gesehen hat, über ein Land, dessen politische Situation ihr absolut fremd ist (“Ob ich Kurdin oder Türkin bin, ist doch völlig egal, wir sind alle in der Türkei, also sind wir alle Türken”). Als sie dort ist, ist alles anders, nicht nur Mehmet. Ein weiteres großes Thema, das Fatma Aydemir da anschneidet: Weder hier noch dort dazugehören, sich von hier nach da sehnen und dann feststellen, dass das auch nicht besser ist. Außerdem weglaufen vor der Polizei und vor dem Gewissen – die Worte “Ich bereue nichts” mögen stimmen, aber ändern nichts daran, dass die Lage für Hazal bedrohlicher wird.
Geschickt angedeutet verleihen die Ereignisse der Putschnacht in der Türkei vom 15.07.2016 und der Konflikt zwischen Kurd*innen und Türk*innen der Inszenierung nicht nur Aktualität, sondern öffnen eine weitere Ebene der Relevanz.
Schminken, ausgehen, Jungs, Streit mit den Eltern sind normale Probleme einer Teenagerin; trinken, pöbeln, schubsen ebenso, aber nicht, wenn jemand dabei stirbt. Die Dimensionen, in denen Hazal und ihre Freundinnen Dinge erleben, sind eben überhaupt nicht “normal” und vor allem: Sie entspringen einer ungerechten Gesellschaft. Der Blick ins Programmheft lohnt. Nicht nur, weil thematisiert wird, wie diese kaputte Hazal einem so ans Herz wachsen kann, sondern auch weil der Fakt reflektiert wird, dass weder auf oder hinter der Bühne (noch im Premierenpublikum..) besonders viele der Menschen zu finden sind, von denen das Stück handelt.
Obwohl der Stücktext Fragen aufwirft, die perfekt in die aktuelle #Meetoo-Debatte passen (Was sind das für Eltern, die die Ansicht vertreten, Mädchen mit kurzen Röcken wären selber schuld, wenn sie vergewaltigt werden?, männliche vs. weibliche Brutalität usw.), ist er doch immer mehr als ein Beitrag zur Gender-Debatte.
Der musikalische Rahmen wird geschlossen, plakativ erklingen nochmal Imam und Teenie-Pop. Zurück bleibt ein Saal nachdenklicher Menschen. Ein keine Minute langweiliger Theaterabend mit Tiefe und Zug.
Text: Marie Lemser
Fotos: Philipp Ottendörfer