– Tuana Aynal
Neunzehnneunundneunzig geboren in Frankfurt am Main
Die Familie sagt „Bu sarışın“ (Die ist ja blond)
Wo habt ihr sie her?
Die Eltern: Braune Augen, schwarzes Haar
Die Familie sagt „Bu postacıya benziyor“ (Die sieht aus wie der Postbote)
Wo kommt sie her?
Sie verstehen nicht.
Zweitausenddrei im Kindergarten
Kein einziges Wort auf deutscher Sprache
Die Erzieherin sagt „Komm zum Tisch“
Es gibt Suppe mit Wurst, ein Leibgericht
Ich ziehe meine Schuhe an
Kein einziges Wort auf deutscher Sprache
Denke wir gehen raus in den Garten
Die Erzieherin sagt „Nein, komm zum Tisch“
Ich verstehe nicht.
Zweitausendvier in Bockenheim
„Kızım düzgün konuş“ (Kind, rede gescheit)
Hochdeutsch ist jetzt die Devise
Kein falsches Wort soll ich verlieren
Wehe, wenn es nach Ausland klingt
Ich bin (k)ein Kanackenkind
Du verstehst das nicht.
Zweitausendsechs beim Auto fahren
Ich will türkisch gern verlernen
Mama zwingt mich jetzt zum reden
Sprech’ ich auf Deutsch sagt sie „Efendim?“ (Wie bitte?)
Als wir an der Ampel halten
Vergesse ich das Wort für Salz
„Mama, was heißt Salz auf türkisch?“
„Efendim?“
Sie versteht mich nicht.
Zweitausendzehn ein Umzug dann
Türkiye, ein fremdes Land
Ich kann nicht
Will nicht
Wollte nie
Ich wollte nie weg von hier
Anne, ben almanım (Mama, ich bin Deutsche)
Istanbul’da yok işim (Habe nichts zu Suchen in Istanbul)
Ich kann türkisch noch verstehen
Mich irgendwie verständigen
Weil Mama mich gezwungen hat
Zweitausendsechs beim Autofahren.
Zweitausendsiebzehn, neues Jahr
Kann nicht
Will nicht
Wollte nie
Zurück nach Frankfurt am Main ziehen
Sonntage einmal die Woche
Sind leider einmal zu viel
Wie soll eine Stadt ruhen
Durch die sowieso kein Leben fließt
Gehe deshalb nach Berlin
Hier soll es Sonntage nicht geben
Dann im Winter alles kalt
Gottverdammte Jahreszeit
Straßen kalt und Wohnung kalt
Füße kalt und Hände kalt
Blicke kalt und Menschen kalt
Gottverdammte Jahreszeit
Niemand lächelt
Niemand spricht
Niemand schaut mir ins Gesicht
Ich versteh euch einfach nicht.
Zweitausendzweiundzwanzig Mai
Sitze hier im Park allein
Periphere Einsamkeit
Perfektioniertes Nischendasein
Ich kann nicht
Will nicht
Weiß nicht wie
Muss nicht
Will nicht
Wollte nie
Vollkommen verstehen
Und verstanden werden
Wollt nicht
Will nicht
Werde nie
Festlegen was Herkunft ist
Salz das heißt auf Türkisch: tuz.
Tuana Aynal ist in Frankfurt am Main geboren und wuchs abwechselnd in Frankfurt und Istanbul auf. Schon damals fragte sie sich: Was bedeutete Deutsch-Sein und war sie es? Sie sollte sich entscheiden – wie bei der Staatsbürger*innenschaft: Deutschland oder Türkei? Heute studiert und lebt sie in Berlin und thematisiert Fragen zur Identität in der Uni, in Gesprächen und in Gedichten.