Ein Fischbrötchenverkäufer in Istanbul lockt Merve und mich seit einiger Zeit immer wieder nach Tophane. Mehmet nimmt sich Zeit für ein Dürüm und brät Fisch, Tomaten, grünen Pfeffer und Zwiebeln auf einem klebrig triefenden Grill. Der Stand von Mehmet Usta (Meister) besteht nur aus dem üblichen Handkarren vor einer Nische in der Mauer. Für mich sind diese Mauer und die Wechselwirkung zwischen Mauer und Mehmet das eigentlich Faszinierende, worin sich Entwicklungen von Istanbul wie im Brennglas bündeln.
Tophane ist ein zentraler Stadtteil auf der europäischen Seite, in dem sich unterschiedlichste Geschäfte, Wohnhäuser und Einrichtungen mischen. Heute liegen hier das Museum Istanbul Modern, alte Hafenanlagen, die Kunsthochschule Mimar Sinan und einige gesichtslose Bürogebäude. Dazu Restaurants und eine schöne, beinahe barocke Moschee, die seit Jahren in ein Baugerüst mit wehenden Staubfängern gehüllt ist. Hinter einem schmalen Streifen Land am Bosporus steigt das Gelände steil an und wird von Straßen längs zum Wasser geteilt. An dem Hang mischen sich Wohnhäuser zwischen halb ausgegrabenen Ruinen und bilden den Übergang zum Szeneviertel Cihangir. Bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert lebten größtenteils Menschen mit griechischem, armenischem und jüdischem Hintergrund in Tophane. Heute ist die Bevölkerung zumeist muslimisch-konservativ.
Vor einigen Jahren haben sich moderne Cafés in zwei kleinen Straßen des Viertels nah am Goldenen Horn angesiedelt. Der Fischer Mehmet hat den speziellen Charakter der angelockten Gäste verstanden. Die meisten sind Studierende, die in geschmackvoller Umgebung, auf matt-gebürsteten Stahlrohrmöbeln sitzen und Kaffee trinken. Mit einem gewissen Lächeln scheinen sie auf altmodischen Aspekte ihrer türkischen Kultur herabzublicken. Ich habe gehört, dass es für diese Überheblichkeit einen Satz gibt: „Hiç leğende yıkanmamış gibi mocha içmek“ (Kaffeetrinken, als ob deine Mutter dich nie in einer Plastikschüssel gewaschen hätte). Tatsächlich aber ist es so einfach nicht. Das Lächeln ist nur scheinbar überheblich und nicht abschätzig gemeint; und nach dem Kaffee gehen viele gerne bei Mehmet Usta vorbei, um ein Fischbrötchen zu essen.
Für mich deutet die Selbstverständlichkeit, mit der die unhygienischen Zustände von Mehmets Stand hingenommen werden, auf eine Zuneigung zum alten Istanbul hin, wo Straßen noch nach Rauch von Kohlefeuer rochen und das Klingeln des Aygaz-Wagens kein überlebendes Relikt früherer Generationen war. Von diesem Bild scheint die heutige Stadt in ihrer Identitätssuche zu zehren. Mehmet Usta ist in seiner Person ein Sammelpunkt, an dem sich viele Facetten der Stadt auf wenig Raum treffen und überspitzt darstellen. Die Kombination dieser zwei Motive, des Modernen und des Traditionellen, spiegelt für mich das Verhältnis junger Türkinnen und Türken zu Istanbul wider.
Mehmet Usta brät Fische vor einer Mauerruine, die zwischen zwei vielstöckigen Häusern eingeklemmt ist. Sie könnte jahrzehntelang vom Meer überspült und mit Muschelbänken überwuchert gewesen sein. Alles ist verwachsen und ausgewaschen. An ihren Flanken wird die Mauer von Bürogebäuden umrahmt und scheint sich aus diesen zu entwickeln. Das ist natürlich eine Verkehrung der Realität, weil das Mauerstück ein paar Jahrhunderte älter als die gebärenden Häuser ist.
In der Mitte der Mauer führt ein Torbogen zu einem dahinter liegenden Parkplatz. Auf und in der Mauer wohnt Mehmet. Die Mauer ist einige Meter tief und etwa zehn Meter lang, sodass die Decke der Ruine auf Höhe des ersten Stock groß genug ist, um darauf ein oder zwei kleine Zimmer anzudeuten. Von Mitarbeitern des Denkmalschutz wurden die losen Ziegel mit einer Betondecke zusammengefasst. Eine ausgebrochene Wandecke an der Rückseite dient als Treppe, über die die Mauerterrasse zu erreichen ist. Auf der Terrasse im ersten Stock sichert ein altes Geländer vor dem Sturz auf die Straße. An der Rückseite erheben sich einzelne Mauerelemente, etwa ein Fensterbogen, ein Stockwerk höher. Eine nahe Straßenlaterne beleuchtet die Szene. Zwischen Geländer und Rückwand versammelt sich das typische Inventar informeller Okkupation der Öffentlichkeit: Verschiedene Stühle aus Plastik oder Holz, ein fleckiger, zweistöckiger Teepot, Gasflaschen, viele Pflanzen in Joghurteimern sowie Werbetafeln, die einmal für irgendetwas gebraucht werden können. An das linke Bürogebäude gelehnt, hat Mehmet ein Zimmer gebaut, durch das der erste Stock zu seiner Terrasse wird. Merve und ich hatten dort nachts mehrmals Dürüm essen dürfen, weil Mehmet unsere Bewunderung für sein Zuhause schmeichelte.
Mehmet richtete sein Leben in dieser denkmalgeschützen Ruine ein, weil der Grundbesitzer diese per Gesetz nicht abreißen darf und sich gleichzeitig nicht zu einer aufwendigen Restaurierung entscheiden wollte. So kann Mehmet – entgegen aller Vorschriften – seinen eigenen Raum errichten. Vielleicht entsteht die spannendste Architektur in Istanbul im ungelösten Status Quo zwischen Denkmalschutz und Investoreninteresse. Dieses Patt ermuntert zu informellen Interventionen, die ohne Zukunft und außerhalb der Zeit stehen. Gleichzeitig zeigen sie die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf eine zunehmend repressive Stadtgestaltung. In diesem rücksichtslosen Prozess der Stadtplanung gilt das Gesetz “Nimm was du willst, bis es jemand von dir nimmt!” auch für die Schwächsten. Dieses Gesetz wurde durch die Toleranz gegenüber Gecekondus (über Nacht aufgeschlagen/gebaut) beinahe institutionalisiert.
Nach einem alten Gewohnheitsrecht im Osmanischen Reich durfte jeder und jede das eigene informell errichtetes Haus behalten, wenn er oder sie die Bauarbeiten vor Anbruch des Tages beendet hatte. In diesen Gecekondus leben die Ärmsten, auf deren Rücken der gewaltige Urbanisierungsschub der Türkei ausgetragen wurde. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Situation verbessert und viele Gecekondus sind ans Strom- und Wassernetz angeschlossen. Häufig leben die Bewohnerinnen und Bewohner jedoch weiterhin ohne Eigentumstitel in den Vierteln. Wenn heute das formale Istanbul auf Gecekondus expandieren will, kollidiert die pragmatische Toleranz der Behörden mit dem Interesse der Investoren und zieht in der Regel den Kürzeren. Das langsame Wachsen einer identitätsstiftenden Stadt wird unterbrochen. Umso mehr beeindruckt Mehmets einzelnes Gecekondu, welches außerhalb der Zeit steht, bis zu dem unvorhersehbaren Moment der Zerstörung.
Mehmet verhält sich der Ruine gegenüber so, als ob sie Natur wäre, als ob ein paar Felsen zufälligerweise derart günstig lägen, dass er daran eine Hütte lehnen kann.
Auch Tophane ist ihm in diesem Sinne Natur, als er mit seinem Wirken daran nicht Teil hat. Mit seiner improvisierenden Art, die Lücke zwischen zwei Gebäuden zu bewohnen, steht er außerhalb der monetären Mechanismen, die das übrige Viertel dominieren. Ich stelle mir Mehmet als Eremit vor, der eine megalomanisch wachsende Stadt und ihre polarisierte Gesellschaft verlässt, um ein anderes Leben zu finden. Tatsächlich verlässt er die Stadt nur in seinem Kopf und lebt im Zentrum von Istanbul als Einsiedler.
Als Merve und ich in einer Herbstnacht 2016 wieder bei Mehmet vorbeikommen, fehlt sein Stand und ein Zettel an der Mauer weist darauf hin, dass der Usta ein paar hundert Meter weitergezogen ist. Die Terrasse auf der Mauer wurde zu großen Teilen mit einer Konstruktion aus Holzresten und blauer Plane überdacht. Ein Eisengitter, das früher rostend an der Mauer lehnte, ist jetzt in den Torbogen eingepasst und mit Leuchtketten umwickelt. Die Mauernische, vor welcher der Handkarren stand, ist jetzt eine Tür. Vielleicht ist sie dort schon immer gewesen. Vielleicht war die Mauer schon immer hohl und eigentlich das Haus, zu dem es jetzt wieder wird. Mehmets einsiedlerisches Leben in der Mauer war sein Versuch, die Stadt anders zu bewohnen, als die übrigen Istanbullus (Bewohner Istanbuls).
Das neue Restaurant ist schön und sieht aus wie jedes andere. Wir trinken Tee, während er das Restaurant zu schließen beginnen. Im Gespräch mit ihm trauen wir uns nicht mehr zu fragen, ob er noch auf der Mauer wohnt, oder je dort gewohnt hat.
Für mich ist Mehmet Usta eine Figur in einer tragischen und zugleich positiven Entwicklung. Der Fischer flieht vom Meer in die Stadt und beginnt ein einfaches Leben entlang der Gräben zwischen Generationen und mit Identitätskonflikten, denen er schließlich weichen muss. Gleichzeitig ist es eine Geschichte des Wunsches nach sozialem Aufstieg und besseren Lebensverhältnissen in der Türkei.
Text: Matthias Simon Wechsler
Bilder: Baki Küçük