Wer Türkisch als Fremdsprache lernt, begegnet immer wieder ungewohnten und irritierenden sprachlichen Wendungen. Das mag manchmal etwas mühsam sein. Doch im genauen, sezierenden Blick auf kleinste Bestandteile der neuen Sprache öffnen sich nicht nur Zugänge zum Türkischen, sondern auch überraschende neue Perspektiven auf die eigene Sprache.
Allen, die die Türkei bereisen oder sich für längere Zeit dort aufhalten, wird früher oder später eines der weit verbreiteten Rauchverbotsschilder ins Auge fallen. Seit 2008 gilt in der Türkei eines der strengsten Rauchverbote weltweit. Angesichts des hohen Raucheranteils in der Bevölkerung und der traditionellen Rauchkultur, für deren Berühmtheit in einigen westlichen Ländern die Wendung „Rauchen wie ein Türke“ Zeugnis ablegt und die sich beispielsweise darin äußerte, dass noch bis 1999 in Flugzeugen der Turkish Airlines geraucht wurde, wirkt dies erstaunlich. Trotzdem hat das besagte Schild seit 2008 in sich stark gleichenden Varianten und an nahezu allen öffentlichen Orten eine allgegenwärtige Präsenz und damit einen ikonischen Charakter erlangt.
Sogar bis in die Badezimmer Berliner WGs ist das Schild vorgedrungen.
Da dieser Artikel von Sprache handelt, ist es nicht primär die Geschichte des Nichtraucherschutzes in der Türkei, die im Fokus steht – gleichwohl diese als Teil der restriktiven Suchtmittelpolitik der letzten Jahre, von der insbesondere auch der Alkohol betroffen ist, ein brisantes Thema ist. Vielmehr ist es der Satz, der das Verbot verkündet, den ich hier unter die Lupe nehmen möchte: „Sigara içilmez.“ Nun ist es bereits ein kleines Kuriosum, dass Zigaretten im Türkischen (wie übrigens auch Suppen) nicht geraucht, sondern getrunken werden. Aber auch die syntaktische Struktur des Satzes wirkt eigenartig, wenn man sie – wie ich es als Türkischlernender immer wieder unwillkürlich tue – eins zu eins in ein grammatikalisches Äquivalent im Deutschen überführt: „Es wird nicht geraucht.“ Der Satz unterscheidet sich von Phrasen, die man auf den Verbotsschildern im Deutschen, Englischen oder Französischen findet, wie etwa „Rauchen verboten“, „no smoking“ (kein Rauchen) oder „défense de fumer“ (Rauchverbot) oder „ne fumez pas“ (Rauchen Sie nicht). Doch was frappiert mich so an diesem „Es wird nicht geraucht“? Es ist der eigenwillige Gebrauch des Passivs (im Türkischen edilgen) und die noch eigenwilligere Übereinstimmung, die der türkische Ausdruck mit einigen Sprachschablonen des Deutschen aufweist.
Grammatikalisch gesehen verschiebt die Benutzung des Passivs im Vergleich zum Aktivsatz unsere Aufmerksamkeit vom Verursacher einer Handlung, eines Prozesses oder eines Zustandes auf den Prozess oder den Zustand selbst. Dies geschieht, indem das ursprüngliche Subjekt mit dem Objekt vertauscht wird. Verbotsschilder und allgemeine Regeln tun dies nicht nur im Türkischen: Statt zu schreiben „Der Besitzer des Lokals (oder der Gesetzgeber) verbietet das Rauchen“, heißt es schlicht „Rauchen verboten“, eine Verkürzung von „Das Rauchen wird verboten“. In der passivischen Sprache kann so das Subjekt des Satzes weggekürzt und verschleiert werden, so wie es hier mit dem Urheber der Verbote geschieht.
Nun verhält es sich bei der Anweisung „Sigara içilmez“ oder „Es wird nicht geraucht“ allerdings so, dass das getilgte Subjekt nicht die Instanz ist, die das Verbot ausspricht, sondern diejenige, die es einhält. Der hierdurch erzielte Effekt ist ein eigenartiges Oszillieren zwischen höflicher Indirektheit, die das Verbot auf eine sanfte und suggestive Weise an seine Adressaten heranträgt und einer unterschwelligen sprachlichen Autoritätsbekundung. Denn indem der Befehl sich grammatikalisch nicht als direkte Aufforderung zeigt, scheint er gleichzeitig die Gewissheit seiner Einhaltung, gleich einem Naturgesetz vorauszusetzen: Es wird nicht geraucht.
Solche Sätze werfen die sprachliche Assoziationsmaschine in Gang. Neben dem autoritären Familienvater („am Tisch wird stillgesessen!“) poppen vor dem inneren Auge unwillkürlich ähnliche passivische Floskeln wie „Es wird darum gebeten, dass …“ oder „Es ist zu beachten, dass …“ auf. Schon ist man mitten im Reich der deutschen Beamtensprache, deren preußisch-hoheitlicher Ton dort bis heute sein Unwesen treibt. Zumindest auf sprachlicher Ebene scheint es somit, als aktualisiere das Verbot „Sigara içilmez“ das um 1800 verbreitete Diktum, der Osmane sei der „Preuße des Orients“ für die heutige Türkei.
Derlei kultursemiotische Interpretationen sprachlicher Eigenheiten setzen sich dabei natürlich leicht der Gefahr der Überinterpretation und der assoziativ, orientalistischen Projektion deutscher Konzepte auf die Türkei aus, und sollten demzufolge immer auch Raum für Ambiguitäten lassen. Das Passiv, das im gesprochenen Türkisch recht häufig und an erstaunlichen Stellen zum Einsatz kommt, geht oftmals über indirekt verklausulierte Autoritätsausübung hinaus: Als liebenswürdige Marotte deutet sich in der allgegenwärtigen sprachlichen Indirektheit mindestens genauso oft die Möglichkeit an, Regeln und soziale Schranken auch mal auf die leichte Schulter zu nehmen.
Text: Paul Wolff
Bilder: Marisa Burkhardt, Fatima Spiecker