Aslı begann im März 2020 ihre Mutter zu fotografieren. In der Zeit wohnten sie beide für einen Monat zusammen und haben sich dadurch zum ersten Mal zu zweit kennen gelernt. “Dank der Fotografie haben wir uns in einer Zeit, in der uns vieles aus der Hand geglitten ist, sozusagen etwas aufgebaut, das nur uns gehörte.” Was mit Momentaufnahmen im Alltag startete, wandelte sich bald zu einer emotionalen und beinahe investigativen Auseinandersetzung mit dem Leben ihrer Mutter, ohne und mit ihrer Tochter, in der Türkei und in Deutschland, ganz nah und durch Einblicke in ihre Umgebung.
Aslı Özcelik ist 26 Jahre alt, studiert Fotografie in Essen und hat bereits letztes Jahr mithilfe einer Kickstarter-Kampagne ihr erstes Fotobuch “Waiting for the Sun to Shine” veröffentlicht, in dem sie Malerei und analoge Fotografie verband. Die Fotos zeigen Momente der Zwischenmenschlichkeit; unter den Farbschichten tauchen Gesichter und Körper auf. “Sıhhatler Olsun” ist ihr zweites Fotobuch, in dem sie sich mit Identität, Herkunft und ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Kübra und Aslı haben sich via Videocall verabredet und darüber gesprochen.
K: Beim Durchblättern ist mir eines direkt aufgefallen: Im Gegensatz zum vorherigen Buch gibt es viel weniger Körper, viel weniger Nacktheit zu sehen. Was ist anders?
A: Es ist intimer geworden.
K: Deine Mutter steht im Fokus des Buchs. Musstest du dir die Nähe deiner Mutter erarbeiten oder hat sie direkt eingewilligt?
A: Es war in meiner Familie schon immer so, dass sie, wenn ich Personen für meine Fotografieprojekte gebraucht habe, zuerst überrascht waren, dass ich sie ausgesucht habe. Es war nie ein Problem, auch für meine Großeltern nicht. Selbst, dass ich meine Oma in BH fotografiere, was auch sehr körperlich ist, war kein Problem. Es bedeutet ihnen einfach sehr viel, wenn sie mir helfen können. Und das tun sie unheimlich gerne. Meine Familie zu fotografieren, war also tatsächlich immer am einfachsten. Gerade weil wir uns so nah sind und ich sie so gut kenne. Sie haben nicht das Gefühl, dass eine Fotografin vor ihnen steht, sondern sehen mich als Person.
K: Hattest du ein bestimmtes Gefühl im Kopf, das du mit den Fotografien vermitteln wolltest bzw. was hast du versucht einzufangen?
A: Ich gehe da blank ran, ich fordere von den Personen keine Inszenierung. Ich weiß nicht, was ich da suche. Ich wusste, dass ich etwas suche und das sollte ich auf dem Weg erfahren.
K: Und was hast du gefunden?
A: Sehr viel Melancholie, Nostalgie, verstärkt durch die analoge Kamera und sehr viele nachdenkliche Blicke. Aber auch sehr viel Stärke.
K: Der Titel deines Buchs, “Sıhhatler Olsun”, ist eine gängige Floskel in der Türkei. Es wird gesagt, wenn jemand frisch vom Friseur oder aus der Dusche kommt und wünscht quasi Gesundheit. Wie kommt es, dass du das Fotobuch so nennst?
A: Ich bin aus der Dusche gekommen, meine Mutter hat es zu mir gesagt und es hat mich direkt in meine Kindheit zurückgeworfen. Für mich steckt so viel Liebe darin.
K: Ich musste daran denken, dass ich früher immer Saatler Olsun verstanden habe, was ja so ähnlich klingt. Vielen anderen Kindern ging es auch so und wir haben uns immer gefragt, was Uhren mit dem Duschen zu tun haben.
In deinem Fotobuch gibt es neben Fotos auch Texte. Sind das alte Briefe?
A: Die weißen Flächen mit der schwarzen Schrift sind Gedankenfetzen, die mir meine Mutter während unserer Gespräche mitgeteilt hat. Hinter den Archivfotos findet man auch zwei Texte, die meine Mutter aufgehoben hat. Einer ist die Abschiedsnotiz, die ihre Schwestern ihr vor ihrer Auswanderung geschrieben haben.
Die Illustration von Autorin Kübra ist inspiriert von den Archivfotos in Aslıs Fotobuch “Sıhhatler Olsun”. Auch das Zitat ihrer Mutter ist dort zu finden, als Gedankenschnipsel zwischen den analogen Fotos.
Weißt du, was ich an der Heimat vermisse? Dort habe ich alle vier Jahreszeiten gelebt. Im Frühling blühen die Blumen. Man kommt raus, draußen fängt das Leben und die Arbeit an. Im Sommer geht man ins Sommerhaus. […] Im Herbst kehrt man aus dem Sommerhaus zurück, die Arbeiten im Freien enden allmählich. Die Vorbereitungen für den Winter beginnen. Im Winter findet alles drinnen statt. Lange Nächte, lange Unterhaltungen vor dem Kamin. […] Hier in Deutschland ist jede Jahreszeit gleich. Man wechselt zwischen der Wohnung und der Arbeit. Draußen alles gleich. Drinnen alles gleich. Nichts, was sich ändert.”
K: Beim Betrachten der Bilder entstehen bei mir immer wieder offene Fragen zu den Begriffen Freiheit, Sehnsucht und Einsamkeit. Welche Bedeutung für diese Worte hast du im Leben deiner Mutter erkannt?
A: Ich habe erkannt, dass meine Mama Freiheit sehr viel mit der Natur verbindet. Und das ist auch irgendwie ein bisschen schmerzhaft für uns, weil das Leben in Deutschland wenig mit Natur verbunden war. Deshalb sagt sie immer wieder: “Ich habe meine Freiheit verloren”. In der Natur unterwegs sein, mit den Füßen die Erde darunter spüren, oder einfach auf der Wiese rumspielen. Einsamkeit und Sehnsüchte. Verbunden mit dem Entrissensein von der Familie, vor allem als wir Kinder zum Studium gegangen sind.
K: Habt ihr während eurer gemeinsamen Reise in die Türkei wiedergefunden, wonach deine Mutter Sehnsucht hat?
A: Schon, ja. Das war unsere erste Reise nach Damal nach 15 Jahren. Ich habe direkt das Leuchten in den Augen meiner Mutter gesehen und zum ersten Mal gesehen, dass sie sich erlaubt hat, zu träumen. Zu träumen, wie sie sich im Rentenalter dort ein Grundstück kaufen und gemeinsam mit ihren Schwestern ein Haus bauen wird. Es war sehr schön zu sehen, dass Träume wieder entstehen können.
K: Gibt es besondere Momente des Projekts, die dir in Erinnerung geblieben sind?
A: Der gesamte Monat, in dem meine Mutter bei mir gewohnt hat. Ich möchte nichts idealisieren, natürlich war es von Zeit zu Zeit anstrengend, aber ich bin so dankbar, dass mir diese Zeit mit meiner Mutter gegeben wurde. Das Strahlen im Gesicht meiner Mutter, als sie eine Jobzusage bekam. Als ich sie dabei beobachtete, wie sie Socken faltete und Wäsche machte oder andere Kleinigkeiten. Das Wiedersehen mit ihren Schwestern.
K: Aus den Bildern könnte man ein Ratespiel machen, welche in der Türkei und welche in Deutschland aufgenommen wurden. Die deutschen Bilder sehen etwas einengender aus. Dein Opa, wie er sich aus dem Fenster lehnt, die Vögel, die vor dem Fenster fliegen. Die Bilder aus der Türkei heller, offener, mehr in der Natur. War dieser Kontrast gewollt?
A: Es spiegelt einfach die Realität wider, wie wir uns da gefühlt haben. Ich bin im Sauerland aufgewachsen, dort ist es sehr weitläufig, es gibt viele Felder, aber es ist nicht das, was ich mit dem Sauerland verbinde. Ich denke an unsere Wohnung, an das zuhause sein in den eigenen vier Wänden, an das sich einander Warmhalten.Es war ein Safe Space für uns und gleichzeitig war es einengend. Ich wusste, dass ich den Ausgleich bzw. den Kontrast erfahren werde, wenn ich mit meiner Mutter in Damal bin.
K: Hattest du noch Kindheitserinnerungen oder Erwartungen an Damal? Wie war es für dich, nach 15 Jahren wieder dort zu sein?
A: Ich habe meine Erinnerungen vermutlich nur durch Bilder. An Dinge wie zum Beispiel Gerüche konnte ich mich gar nicht erinnern, bis ich dann dort war. Manchmal hatte ich einfach das Verlangen, diese Gerüche in ein Glas einzupacken und mitnehmen, sodass ich sie zu Hause immer wieder riechen kann.
K: Wann wusstest du, dass das Buch fertig ist?
A: Es war schwierig, loszulassen, weil ich mich gefragt habe, wann ich wieder an etwas arbeiten werde, was mir so viel bedeutet. Die Bilder haben schon angefangen, sich zu wiederholen, aber in meinem Kopf gab es immer die Frage: Was dann?
K: Ja, was dann? Mit diesem Projekt hast du dich ja thematisch in eine neue Richtung bewegt und dich auch mit den Themen Migration und Migrationsgeschichte beschäftigt. Willst du dich künstlerisch noch weiter damit auseinandersetzen?
A: Ich habe gemerkt, dass ich bei diesem Projekt auch gedanklich in etwas reingetappt bin, was mich auch in meiner Teenagerzeit lange geprägt und beschäftigt hat. Etwas, was ich lange von mir weggedrückt habe. Ich denke, dass das in der Zukunft auf jeden Fall noch weiter thematisiert wird und ich habe auch schon die nächste Idee. Ich weiß noch nicht, wie ich sie angehen werde, aber es ist auf jeden Fall etwas, an dem ich mit Zeit und Geduld weiterarbeiten möchte. Auch wenn es nur für mich selbst ist.
K: Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem inneren Drang, sich mehr mit der eigenen Familien- und Migrationsgeschichte zu beschäftigen und der eigenen Identitätsentwicklung Mitte Zwanzig?
A: Ja, ich hätte das ehrlich gesagt auch nie gedacht, aber ich glaube, so Mitte zwanzig macht es Klick. Wer bin ich überhaupt? Warum sprechen Leute meinen Namen nicht richtig aus?
K: Was hat das Projekt noch in dir ausgelöst?
A: Allein zu erfahren, was meine Mutter in meinem jetzigen Alter und auch vorher bewältigen musste, hat mir die Power in meiner Mama gezeigt. Allein, dass sie in diesem jungen Alter ausgewandert ist. Das hat mir klar gemacht, dass ich die vielen Dinge in meinem Leben besser wertschätzen will, mich mehr trauen will, mehr genießen will.
K: Es ist super schön, dass immer mehr Menschen mit ihren Geschichten diesem Diskurs beitragen und Erlebtes und Gefühltes sichtbar machen.
A: Ich habe es immer bewundert, wenn ich Menschen getroffen habe, die auf solche Themen aufmerksam machen und die mir einfach dadurch super viel geben. Ich hoffe einfach, dass ich andere Menschen auch etwas geben kann mit diesem Buch.
K: Was halten die Menschen, die dein Buch erwerben, in den Händen?
A: Liebe. Es ist zwar kitschig, aber ganz viel Liebe zwischen Mutter und Tochter.
Aslıs Fotobuch-Projekt Sıhhatler Olsun könnt ihr noch ein paar Tage lang hier unterstützen.
Mehr Einblicke bekommt ihr auf ihrem Instagram-Profil oder auf ihrer Website.
Auch die Autorin Kübra hat sich in unserer Workshopreihe “Wir sind #vonhier” mithilfe künstlerischer Tools mit ihrer Familiengeschichte auseinander gesetzt. Ihre Illustrationen “Yolda – Auf dem Weg” sind hier zu sehen.
Interview & Illustration: Kübra Tokuç
Bilder: Aslı Özçelik