In Berlin geht niemand gerne auf Wohnungssuche, schon gar nicht im Szeneviertel Kreuzberg. Lebendige Straßen, hippe Cafes und Bars, beliebt bei jungen Menschen und Künstler*innen, die den Spirit rund um das Kottbusser Tor lieben und leben. Ein Viertel zwischen Gentrifizierung und Verdrängung. Hinter dem Spirit steckt Geschichte: Die Geschichte der Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei. Im Gegensatz zu heutigen Wohnungssuchenden konnten sie sich den Bezirk, in dem sie leben wollten, nicht aussuchen. Das hatten die Berliner Behörden der 60er und 70er Jahre für die Arbeitsmigrant*innen und ihre später zugezogenen Familien nicht vorgesehen. Stattdessen wurden ihnen die Bezirke zugeteilt. Unter ihnen war oft Kreuzberg. Die Wohnungen, deren Anblick von den Spuren des zweiten Weltkrieges übersät waren und eigentlich schon vor der Ankunft der Arbeitsmigrant*innen für neue Stadtplanungen heruntergerissen werden sollten, sollten ihr neues vorübergehendes Zuhause werden. Vorübergehend: Das gab die Bezeichnung ‚Gastarbeiter‘ programmatisch vor.
Doch wie verändert sich die Bedeutung von Zuhause, wenn das Vorübergehende sich zu einem Dauerzustand entwickelt? Mit dieser Frage setzt sich der Dokumentarfilm „Gurbet de bir ev“, Gurbet ist jetzt ein Zuhause, der Künstlerin Pınar Öğrenci auseinander, der im Rahmen des DOK-Fest München gezeigt wird.
Mit fotografischen Fragmenten, die das heruntergekommene Berlin-Kreuzberg zwischen Ruinen aus dem zweiten Weltkrieg zeigen, erzählt Pınar Öğrenci über das Ankommen der Arbeitsmigrant*innen in einer ihnen fremden Stadtgesellschaft. Mit Interviews und den Gedichten von Aras Ören bringt sie den Zuschauenden, den Schwebezustand zwischen dem Ankommenwollen, aber nicht können und der geplanten Rückkehr in die Heimat, die sich in dauerhafte Sehnsucht transformiert, näher. Die Bilder von Wohnheimen, Küchen mit mehreren, aber trotzdem nicht ausreichenden Herdplatten, Holzkohleöfen und Protesten angetrieben von den politischen Unruhen in der Türkei lassen die Herausforderungen seiner Zeit und ihre Überlappungen spüren.
Auch die Stadtplanungspolitik der 80er Jahre ist Teil des Dokumentarfilms. Als die Stadtregierung entscheidet, die Altbauten abzureißen, regt sich Widerstand in der Kreuzberger Stadtgesellschaft, der darin mündet, dass das Vorhaben erfolgreich gestoppt und stattdessen das Konzept der ‚behutsamen Stadterneuerung‘ initiiert wurde. Das stadtplanerische Konzept sah die Partizipation der Bürger*innen vor – ein Konzept, das sich heute viele aufgrund von steigenden Mieten und immer knapper werdendem Wohnraum wünschen würden. In der Realität jedoch wurde auch hierbei über ihre Köpfe hinweg entschieden, woraufhin sich migrantische und linke Communities solidarisch organisierten und gemeinsam ihre Rechte einforderten. „Wir gründeten einen Mieterladen in der Dresdener Straße, um sie über ihre Rechte aufzuklären“, erzählt der Architekt Cihan Arin im Dokumentarfilm.
Die Hinterhöfe der Gebäude, in die Spazierengehende gerne hineinluken, waren das Kernstück des Zusammenlebens. Aus einstigen Trümmern wurden soziale Räume. Das führt uns Pınar Öğrencis Film vor Augen: Wenn neben den Arbeitsschichten Zeit blieb, kamen die Bewohner*innen hier mit ihren Nachbar*innen zusammen, um zu grillen. Kinder spielten und wuchsen gemeinsam auf, Frauentreffen wurden organisiert: „Wir wurden zu einem Projekt gemacht“, kritisiert eine interviewte Frau die damaligen Sozialarbeiterinnen – eine Kritik an übergestülpten Integrationserwartungen. Auch das urban gardening ist kein Phänomen des heutigen Berlins, wie der Film zeigt. Schon damals bepflanzten die Hausbewohner*innen ihre Innenhöfe und züchteten ihr eigenes Gemüse.
Auch wenn von den alten Hinterhöfen heute nicht viel übrig ist und sich viele Menschen die einst heruntergekommenen Kreuzberger Wohnungen heute kaum noch leisten können, so ist doch eines geblieben: Der Kampf um Gerechtigkeit auf dem Wohnungsmarkt und der Geist des gurbet, des Lebens in der anfänglichen Fremde, das ein neues Zuhause geworden ist. Dieses Zuhause, so macht der Film deutlich, haben sich die Arbeitsmigrant*innen in Kreuzberg aus ihrer Sehnsucht, Solidarität und ihren Ängsten und Erfahrungen gebaut. Ihr Gerüst liegt im Dazwischen. Im Gegensatz zu einem Gebäude lässt es sich nicht herunterreißen.
Text: Tuğba Yalçınkaya
Bild: DOK.fest München, Gurbet is a home now