Literarischen Figuren beim Schreiben eine Stimme zu verleihen, stellt auch erfahrene Schriftsteller*innen vor Herausforderungen. Es gibt unzählige Bücher, die allerhand Tricks verraten wollen, wie eine Romanfigur nun lebendig wird, „eine Stimme“ erhält. Elif Shafak hat in ihrem Roman sechs Menschen eine Stimme verliehen, die in der Gesellschaft in der Regel unerhört bleiben und sogleich den Roman danach benannt. So nimmt sich die Fiktion dem “Unerhörten” an und konfrontiert den/die Leser*in mit den Geschichten „Ausgestoßener“, von denen wir im Alltag eher „verschont bleiben“. Selbstverständlich schiebt sich solch ein Ausgestoßener hin und wieder auch in der Realität in unser Blickfeld, doch mit seiner Geschichte müssen wir uns nicht konfrontieren. Literatur aber konfrontiert und das sehr hart. Zum Glück!
So hatte ich kurz vor der Lektüre von „Unerhörte Stimmen“ den Roman „Kukolka“ der Berliner Autorin Lana Lux gelesen, der ebenfalls einer minderjährigen Prostituierten eine Stimme verleiht. In Shafaks Roman wird dieses wichtige Thema wieder aufgegriffen. Leila, die Protagonistin in Shafaks Roman, ist zwar nicht mehr minderjährig, aber ebenfalls eine Prostituierte, zwar nicht in Berlin, aber im Großstadtdschungel Istanbuls.
Wie kam es dazu, dass sich Leilas Leben so entwickelte? Der Roman lockt vor allem dadurch, dass er auktorial aus der Perspektive Leilas erzählt wird- allerdings ist sie zu Beginn des Romans schon tot. Sie wurde ermordet. Es ist spannend einen Roman so zu beginnen, und der/die Leser*in fragt sich natürlich: wie stellt die Autorin das an, dass Leila tot noch erzählen kann? Wie wird Shafak dies inhaltlich und stilistisch verarbeiten, ohne dass Leilas Geschichte in den Bereich der Science Fiction oder Fantasy rutscht?
Leila denkt noch. Ihr Gehirn funktioniert noch einige Zeit nach ihrer Ermordung und ihre Erinnerungen erreichen sie in Fragmenten, die abwechselnd nach den letzten 10 Minuten und 38 Sekunden ihres Lebens und den darin wichtigen vertretenen Menschen benannt sind. Durch diese sehr zeitraffende Erzählung lernt der/ die Leser*in Leila und ihre Geschichte kennen.
Leila wächst in einem kleinen Dorf in der Provinz Van auf, in einer Familie, die sich unter dem Vorwand der Frömmigkeit immer weiter in Lügen verstrickt. Leila ist Binnaz‘ Tochter, die selbst mit kaum 16 Jahren die zweite Frau von Harun wird, dem seine erste Frau Suzan keine Kinder gebar. Um seiner ersten Frau ein Geschenk zu machen, wird Leila Suzan überreicht und soll in dem Glauben aufwachsen, diese wäre ihre Mutter. Binnaz‘ Schmerz ist so spürbar, dass er selbst für den/die Leser*in kaum zu ertragen ist.
Die Familie bleibt kinderarm. Erst einige Jahre später gebärt Binnaz noch einen Sohn, der aufgrund von einer schweren Ausprägung des Down-Syndroms nur bis zu seinem neunten Lebensjahr lebt.
Leila flieht nach Istanbul
Leila kämpft mit den Lügen und Geheimnissen der Familie – Binnaz hat Leila inzwischen offenbart, dass sie in Wahrheit ihre Mutter ist –, mit dem Tod ihres Bruders, mit den Schuldgefühlen nach dem mehrfachen Missbrauch durch ihren Onkel väterlicherseits und ihrer eigenen Ungläubigkeit, die schließlich dazu führt, dass sie zu Hause eingesperrt werden und den Sohn des Onkels heiraten soll. Bis sie schließlich nach Istanbul flieht.
Phasenweise wirkt Leilas Geschichte konstruiert und arbeitet mit einigen kulturellen Vorurteilen, beginnend von einer bildungsfernen Gläubigkeit bis hin zu den vorbildlichen bildungsnahen europäischen Werten. In Shafaks Anmerkung zum Ende des Romans geht sie auf das 1990 in der Türkei gestrichene Gesetz ein, welches das Strafmaß der Vergewaltigung von Prostituierten verringerte. Darüber hinaus bemängelt sie auch die fehlende Gleichstellung der Geschlechter und die schlechten Bedingungen der Sexarbeiter*innen. Die Anmerkung macht den bissigen Ton des Romans gegenüber der Türkei mehr als nachvollziehbar, wenngleich auch die Frage nach den Bedingungen und dem Leid von Sexarbeiter*innen auf der ganzen Welt mitschwingt. Diesen Blickwinkel spart der Roman aus. Zudem wird unweigerlich die Frage aufgeworfen, ob den Weg in die Prostitution nur eine Frau gehen kann, die eine zerrüttete Familiengeschichte in sich trägt und was bei einer gradlinigen Biografie geschehen muss, um als „Ausgestoßene“ zu enden. Der Weg, den Shafak für Leila ebnet, ist zunächst wenig überraschend. In ein paar wenigen Sätzen handelt sie Leilas Ankunft in Istanbul und ihren Weg in ein Bordell ab.
Sie lernt erstmalig ein anderes Leben kennen, eines, das auf Liebe gründet
Auch als plötzlich ein junger Mann namens D/Ali nach einer Demonstration auf der Flucht vor der Polizei in dem Bordell auftaucht und Leila, um ihn zu verstecken, D/Ali mit auf ihr Zimmer nimmt, erahnt der/ die Leser*in den Beginn einer Liebesgeschichte. Es wurden vorab auch reichlich Spuren gelegt, die den/die Leser*in den weiteren Verlauf der Liebesgeschichte ebenfalls erahnen lassen. Leila lernt erstmalig ein anderes Leben kennen, eines, das auf Liebe gründet, wenngleich sie sich in D/Alis von einer kommunistischen Idee getriebenen Welt auch nie vollständig zu Hause fühlt.
D/Ali kommt in dem Protest 1977 am Tag der Arbeit ums Leben. So wird Leila geradezu in ihr altes Leben zurück geworfen. Leila nimmt ihre Arbeit als Prostituierte wieder auf und ist allein. Nein. Allein ist sie nicht ganz. Da gibt es ihren Jugendfreund Sabotage, der ihr vor allem wegen seiner heimlichen Liebe zu ihr nach Istanbul gefolgt ist, Nalan, die Trans*, die ebenfalls anschaffen geht und der Leila einmal das Leben rettete, Zaynab, die mit Leila im Bordell arbeitet, Jamila, die vor dem Krieg geflohene und ebenfalls in der Prostitution gelandete Sudanesin, Humerya, die nach ihrer jungen Ehe vor ihren unerträglichen Schwiegereltern floh und im Bordell putzt.
Alle sind sie in Istanbul gelandet, dem von Shafak an vielen Stellen sehr eindringlich beschriebenem Ort, wobei sie phasenweise so schreibt, als ob sie Istanbul in allen Facetten durchdrungen hätte.
Was Istanbul wirklich ist und ermöglicht, bleibt individuell und stets ein Geheimnis
In diesem von der Autorin konstruierten Bild von Istanbul ist die Stadt der Ort für jene Menschen, die ihre Träume und Bedürfnisse an keinem anderen Ort der Welt in der Türkei ausleben können. Die Flucht nach Istanbul heißt wiederum aber nicht, dass die Träume sich erfüllen werden. Doch zumindest hat man den Raum um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse in aller Heimlichkeit wenigstens zu versuchen zu stillen. Was Istanbul jedoch wirklich ist und ermöglicht, bleibt individuell und stets ein Geheimnis.
Dass Shafak es geschafft hat trotz der Vorhersehbarkeit mancher Ereignisse den/die Leser*in an den Roman zu fesseln, ist das Beeindruckende an dem Roman. Die 421 Seiten habe ich in zwei Tagen durchgelesen. Möglicherweise liegt es daran, dass der/ der Leser*in tief in sich genau weiß, dass das Leben zu genau den Menschen so erbarmungslos ist, bei denen es von Beginn an erbarmungslos zugeschlagen hat und dass der Schicksalsweg eines „Ausgestoßenen“ wirklich so leicht und schnell bergab geht, wie es von Shafak beschrieben wird.
Überraschend ist zum Ende hin dann doch, dass Leilas Stimme 158 Seiten vor Schluss plötzlich verstummt, und dass ihre Freunde und Freundinnen einen skurrilen Plan aushecken, Leilas Leiche von dem Friedhof der „Ausgestoßenen“ zu befreien. Mit dieser Geste wollen sie ihre Freundschaft und Loyalität gegenüber ihrer geliebten, geradezu verehrten Leila beweisen. Durch ihren Roman beweist Shafak in welchen irrsinnigen Kategorien die Gesellschaft über Menschen richtet, um sie schlussendlich auf einem Friedhof der „Ausgestoßenen“ zu verbannen. Wie kann der Wunsch ein selbstbestimmtes Leben nach den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen zu führen verachtenswert sein? Zum Schluss stellt sich nicht nur Leilas Jugendfreund Sabotage die Frage, was wohl aus Leila geworden wäre, wenn er ihr vom ersten Moment an seine Liebe gestanden hätte? Würde sie dann noch leben? Doch was wäre dann aus den anderen vier geworden?
Text: Carina Plinke
Bilder: Marie Lemser, Tolga Aksüt