In Istanbul laufen wir schneller. Die Stadt ist chaotisch, die Stadt ist lebendig, die Stadt ist wild. Istanbul rennt. Und wir rennen mit. Ständig gibt es neue Eindrücke, überall lauern neue Geheimnisse, jederzeit kann etwas Unerwartetes geschehen. Beim Loslaufen wissen wir nicht, wo wir landen werden, wohin die Straßen der Stadt uns tragen werden. Wir werden mitgerissen von Menschenmassen, in einem Takt, an den man sich zunächst gewöhnen muss. Wie schaffen wir es, hier zu atmen? Sich in der wilden Stadt nicht selbst zu verlieren und sich nicht zerreißen zu lassen von den vielen Eindrücken? Zum Beispiel mit Yoga. Die Anzahl der Yogastudios in Istanbul nimmt stetig zu und das Interesse der Menschen steigt.
Aber Yoga? In Istanbul? Wie ist der ruhige Sport vereinbar mit dieser wilden, chaotischen Stadt? Ich möchte diesen scheinbaren Widerspruch besser verstehen und spreche mit Müge Özkan, einer Yogalehrerin aus Istanbul. Ihre Ausbildung zur Yogalehrerin hat sie nach ihrem Studium begonnen. Auf Bali, in Frankreich und in Istanbul hat sie sich weiterbilden lassen. Jetzt unterrichtet sie in einem der bekanntesten Yoga Studios Istanbuls, Cihangir Yoga, und im Mars Athletic Club.
Müge, viele Jahre beschäftigst du dich jetzt schon mit Yoga. Zwölfmal die Woche unterrichtest du und organisierst regelmäßig Yogaurlaube. Wie kam es, dass du mit Yoga angefangen hast?
Müge: Ich war meinem Körper immer sehr verbunden. Ich bin in der Natur aufgewachsen und habe mich gerne und viel bewegt. Als ich angefangen habe, in Istanbul Soziologe und Philosophie zu studieren, brauchte ich einen Ausgleich. Da kam mir Yoga sehr gelegen. Ich wollte nicht in ein Fitnessstudio, sondern etwas tun, hinter dem eine Philosophie steckt. Dabei ist es auch geblieben.
Wenn du auf deine jahrelange Erfahrung im Unterrichten zurückblickst, wie fühlt es sich an, in Istanbul Yoga zu lehren?
Müge: Istanbul ist chaotisch. Auch die Beziehungen zwischen den Menschen sind sehr kompliziert. Es gibt unzählige Vorstellungen, wie man zu sein hat und was man zu tun hat. Von diesen Dogmen versuche ich, meine Schüler zu lösen und Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren.
Yoga findet in der Türkei immer mehr Anklang. Merkst du das auch in deinen Klassen?
Müge: Definitiv. Gerade durch die Verbreitung in den sozialen Medien nimmt das Interesse an Yoga seit ungefähr zwei Jahren hier extrem zu. Während früher in meinen Klassen nur junge Frauen standen, gibt es nun immer mehr Männer und Menschen verschiedener Altersklassen.
Yoga und Istanbul, Ruhe und Chaos. Das kommt mir auf dem ersten Blick sehr widersprüchlich vor. Wirst du mit Schwierigkeiten, in einer Metropole zu unterrichten, konfrontiert?
Müge: Nein, ganz im Gegenteil. Metropolen sind ein großes Chaos, voller Eindrücke und sich ständig verändernden Bedingungen. Yoga hilft mir, in diesem Chaos nicht den Kopf zu verlieren. Ich kann in mir ruhen und von diesem Punkt aus die Stadt in ihrer ganzen Wildheit erleben. Und eigentlich ist der Mensch genauso. Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe; gleichzeitig brauchen wir das Neue, das Wilde und das Chaos. Vielleicht zieht genau das so viele von uns nach Istanbul. Die große Herausforderung ist es, sich auf die Stadt einzulassen, während man sich selbst treu bleibt: Dabei hilft Yoga.
Aber fällt es dir nicht trotzdem leichter, dich an einem ruhigen Ort auf Yoga zu konzentrieren?
Müge: Während meiner Ausbildung auf Bali wurde mir alles gestellt. Ich musste mich um nichts kümmern und konnte mich völlig auf meine Praxis konzentrieren. Dadurch habe ich mich selbst sehr viel weiter entwickeln können. Ja, es ist tatsächlich einfacher an einem Ort Yoga zu praktizieren, an dem es keine Störungen von außen gibt. Definitiv. Aber die eigentliche Kunst sehe ich darin, es in dieser Stadt zu schaffen, die Ruhe von der Matte durch die reizüberfluteten Straßen zu tragen.
Text: Derya Reinalda
Titelbild: Kerim Knight