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“Das schwer Sagbare lässt sich durch künstlerische Tools manchmal besser ausdrücken”

Ein Interview mit dem Team von #vonhier

Unser kreatives Workshop-Projekt “Wir sind #vonhier” geht unter dem Schwerpunktthema “Zukunftsvisionen und Community-Building” in die zweite Runde. Eine Möglichkeit, kreative Ausdrucksformen für eure Lebensrealitäten und Zukunftsvisionen zu finden und ein Raum für Diskussionen und Austausch zu Themen wie Identitäten, Zugehörigkeit und gesellschaftliche Machtstrukturen. Im Gespräch erzählen Tuğba Yalçınkaya (Projektentwicklung, Empowerment und Schreiben), İrem Kurt (Illustration), Serap Yılmaz-Dreger (Empowerment & Audio) und Marie Hartlieb (Projektmanagement) über kreative Schaffensprozesse fern von Leistungsdruck, kollektive Visionen und emotionale Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Wer beim Lesen Lust bekommt, mitzumachen, kann sich bis zum 20.4.22 noch hier bewerben.

Wie kam es zu der Idee von “Wir sind #vonhier”?

Tuğba: Wir sind #vonhier” ist aus dem Wunsch heraus entstanden, unserer Community eine Plattform für kreativen und gesellschaftspolitischen Austausch zu geben und politische Anliegen mit Hilfe kreativer Tools zu bearbeiten. Dabei möchten wir einen geschützten Raum für BIPoC und Menschen mit (familiärer) Migrationsgeschichte schaffen.

Marie: Durch die kreativen Tools Schreiben, Illustration und Audiorecording können außerdem Positionen ausgedrückt und Lebensrealitäten verdeutlicht werden. In Wir sind #vonhier wollen wir diese Kraft nutzen, um mehr Sichtbarkeit für marginalisierte Stimmen zu schaffen und neue gesellschaftliche Narrative entwickeln.

Wie und wieso verknüpft ihr künstlerische Tools und gesellschaftspolitische Themen?

İrem: Manche Gefühle oder Gedanken, die wir gegenüber gewissen Ereignissen und/oder  Situationen erleben, lassen sich nicht immer klar deuten oder benennen. Durch die künstlerische Auseinandersetzung mit den uns tangierenden gesellschaftspolitischen Themen können wir neue Perspektiven schaffen, Bezug nehmen, Fragen aufwerfen oder sogar Menschen erreichen, die bisher vom Diskurs ausgegrenzt oder ausgeschlossen wurden.

Tuğba: Das schwer Sagbare lässt sich durch künstlerische Tools manchmal besser ausdrücken. Sie setzen neue Impulse und können Gedanken in Form gießen, die zuvor nur in Form von Wortfetzen in unserem Kopf schwirrten. Gerade in Bezug auf gesellschaftspolitische Themen können sie helfen, Groll, Wut oder Frustration in etwas Produktives umzuwandeln, sozusagen ein kreativer Motor. Darin liegt gewissermaßen die Magie der Kunst. Gleichzeitig vermittelt sie politische Erwartungshaltungen und Botschaften, interveniert in herrschende Narrative, schafft neue Erzählungen und Zukunftsvisionen. 

Warum eignen sich diese kreativen Wege eurer Meinung nach, um sich mit Themen rund um Identität auseinanderzusetzen?

Serap: Auch schon auf der Ebene des “Ich” können wir meiner Meinung nach von Identitäten – also im Plural – sprechen. Da wir nie “fertig” sind mit uns und unserer Persönlichkeitsentwicklung, ist es spannend, den Bogen zwischen dem kreativ-künstlerischen Formen & (Er-)Schaffen und dem Formen & (Er-)Schaffen der eigenen Identitäten zu spannen. Ich sehe hier eine große Parallelität, die spannende Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich bietet.

İrem: Durch das eigene kreative Gestalten ergeben sich Möglichkeiten, das nicht Offenbare zu wecken und die eigenen Gedanken auf spielerische, aber ernst zunehmende Art zu ergründen und zu reflektieren. Erst wenn ich mich selbst verstehe, kann ich auch Veränderung bewirken. 

Tuğba: Biografien sind komplex und dadurch manchmal schwer greifbar. Die kreative Auseinandersetzung mit mir selber schafft neue Zugänge zu meinem Ich. Sie kann dabei helfen, neue Perspektiven auf meine Persönlichkeit einzunehmen und sie im Spiegelbild meiner gesellschaftlichen Erfahrungen zu reflektieren.

Gibt es einen spezifischen künstlerischen Anspruch bei dem Projekt?

Serap: Wir möchten uns gegenseitig ermutigen und empowern, unsere Geschichten und Perspektiven auf unsere gemeinsame Wirklichkeit zu teilen und dabei dem Hamsterrad des Alltags zu entkommen. Jedwede Form von kreativem Ausdruck sehen wir dabei als Kunst an und freuen uns, einen freien, wohltuenden Schaffensprozess zu erleben, ohne Druck oder Leistungszwang fühlen zu müssen. 

Tuğba: Wir wollen weg von dem Narrativ, dass jemand als Künstler*in geboren wird und zeigen, dass wir alle künstlerische Werke schaffen können. Dafür geben wir im Projekt die künstlerischen Tools an die Hand, die auch über das Projekt hinaus eingesetzt werden können. 

Was begeistert euch selber daran, die Workshops zu leiten?

İrem: Meine Hauptmotivation ist es, die Teilnehmer*innen auf eine kreative und urteilsfreie Reise zu entführen, bei der sie erkennen, dass sie doch viel kreativer sind als sie denken und erst recht Zeichnen können. Die Illustration ist ein wertvolles Ausdrucksmittel um sich mit sich selbst, sowie seiner Umwelt auseinanderzusetzen und gibt Raum, um sich selbst sowie andere zu empowern. 

Wie können safer spaces geschaffen und Communities gestärkt werden und was ist euch dabei besonders wichtig?

Tuğba: Ausgehend von der Projekterfahrung aus letztem Jahr kann ich sagen, dass es insbesondere die Teilnehmenden waren, die den safer space geschaffen haben. Und zwar durch ihre Offenheit, Persönliches miteinander zu teilen, ihren empathischen und wertschätzenden Umgang miteinander und ihre Lernbereitschaft sowie ihr Reflexionsvermögen. 

Serap: Mir ist es wichtig, dass diese Fragen immer wieder aufs Tablett kommen und besprochen werden müssen. Selbst wenn wir schon Antworten darauf haben, wie bestimmte Prozesse dazu beitragen, safer spaces zu schaffen, gibt es keine allgemeingültige Antwort darauf. Deswegen ist es sowohl spannend, als auch herausfordernd zur selben Zeit, mit jeder neuen Konstellation von Gruppen oder Gemeinschaften aktiv zu besprechen, was diese zum jetzigen Zeitpunkt brauchen, um sich stark fühlen zu können. Dabei sollte viel Energie und Arbeit zu Beginn einer Gruppenbildung investiert werden, die sich aber für den weiteren Prozess des Austausches mehr als lohnt. Im besten Fall hat dies zur Wirkung, dass Individuen sich öffnen können, Emotionen zulassen und durch Vulnerabilität an Stärke und Resistenz gewinnen.

Was hat euch im letzten Jahr besonders bewegt?

Marie: Die Abschlussveranstaltung war – obwohl sie online war – so persönlich, so emotional und so empowernd. Mich hat dazu auch noch beeindruckt, was für unglaublich tolle Kunstwerke entstanden sind und mit welcher Kraft sie persönliche Geschichten erzählen und Forderungen an die Gesellschaft stellen. 

İrem: Mich hat besonders die Gruppendynamik im letzten Jahr sehr berührt, sowie natürlich auch die Abschlusspräsentation! Ich fand es besonders, wie sich die Teilnehmer*innen auch außerhalb der Workshops gegenseitig in ihrem Schaffensprozess unterstützt und gestärkt haben. Ich finde, das wurde besonders in den Werken sichtbar, sowie während der Abschlusspräsentation durch die Reaktion der anderen Teilnehmer*innen deutlich spürbar.

Wie kam es zur Schwerpunktsetzung “Zukunftsvisionen und Community Building” für das diesjährige Projekt?

Serap: Gemeinsam haben wir überlegt, wie und mit welchem Blick eine Fortsetzung des Projekts sinnhaft und sinnstiftend sein kann. Wir wollen dieses mal nicht nur auf die Vergangenheit schauen, sondern uns den wichtigen Fragen der Zukunft widmen. Themen wie die Klimakrise, den Krieg gegen die Ukraine und wieder erstarkende Formen von Rassismus erleben wir derzeit parallel zur andauernden Pandemie. All das ist vor allem  für vulnerable Communities sehr angespannt und existenzrelevant. Wir wünschen uns daher in diesem Jahr, den Blick auf das zu lenken, was für uns wichtig ist, welche Aufgaben vor unseren Communities liegen und wie wir dieser komplexen Welt begegnen können.

Tuğba: Eine gemeinsame Vision zu haben und vor allem zu schaffen, ist Communities inhärent. Mit Zukunftsvisionen setzen wir uns auseinander und während wir das tun, schaffen wir im Projekt eine Community. Was wünschen wir uns für die Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten? Wie schaffen wir es über den Status Quo hinauszudenken? Wie können wir Utopien schaffen und sie in unsere (zukünftigen) Lebenswirklichkeiten einfließen lassen? Die reflexiv-dialogische Auseinandersetzung mit solchen Fragen kann ein wichtiges Moment des Community Buildings sein. Denn es kristallisieren sich z.B. ähnliche Visionen heraus, an denen Menschen gemeinsam arbeiten möchten.

Worauf freut ihr euch in Staffel 2 besonders?

Marie: Physisch zusammen zu kommen und somit noch mehr Austausch möglich zu machen! Es wäre super schön, wenn sich aus den Workshops langfristige Verbindungen entwickeln könnten. 

Serap: Ich freue mich bei der zweiten Staffel darauf, Menschen zu treffen, die gemeinsam an Themen wie Zugehörigkeit und Community-Building arbeiten wollen. Vor allem mit Hinblick auf die Herausforderungen akuter Entwicklungen und Krisen scheint es mir wichtiger denn je, als gemeinsame Gruppe mit unterschiedlichen Stärken in den Austausch zu gehen und solidarisch auf die Zukunft zu schauen.

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