Die Fernbushaltestelle in Karasu. Eine Schwarzmeerstadt, zweieinhalb Autostunden östlich von Istanbul. Ein junger Mann spricht auf Deutsch in die Kamera. Rechts im Bild befindet sich ein grün-weißer Altglascontainer. Im Hintergrund sind einige Geschäfte zu erkennen und das Auto am linken Bildrand erscheint im ersten Moment als ein alter Golf. Ich sehe das Video auf YouTube. Cem Tekin heißt der Mann vor und hinter der Kamera. Sein Kanal nennt sich „Cemcorder“. Er nimmt mich in seinem Video mit in diese kleine türkische Provinzstadt. Zeigt mir den Strand, an dem er als Kind Laufen lernte und berichtet von zahlreichen Holzbaracken, die einst hier gestanden haben. Man sieht Cem Tee trinken mit seiner Familie, beim Angeln und bei der Erkundung der Umgebung. Immer wieder werden die Aufnahmen einer Drohne eingeblendet. Nach fünf Minuten und 46 Sekunden endet das Video mit dem Versprechen einer Fortsetzung am nächsten Tag. Ich bin gespannt.
Während ich auf den Beitrag des kommenden Tages warte, schaue ich mir die älteren Videos des Kanals an. Einen Beitrag über Bernd Höcke findet sich hier ebenso, wie Eindrücke vom Klassenaufstieg des MSV Duisburgs. Immer wieder geht es jedoch um deutsch-türkische Themen. Den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in Oberhausen, das Verfassungsreferendum. Ich will Cem treffen, mehr über ihn erfahren. Ein paar Wochen später sitzen wir zusammen in Köln Ehrenfeld. Ins Café Rotkehlchen kommt Cem öfters. Er empfiehlt das Sandwich mit Ziegenkäse. Sein Büro liegt ganz in der Nähe, wie auch bei vielen anderen Medienschaffenden, die in Ehrenfeld beheimatet sind. Jan Böhmermann zum Beispiel oder der WDR.
Der 34-jährige Cem Tekin wurde in Ankara geboren und kam mit vier Jahren nach Deutschland. Aufgewachsen in Dinslaken und Duisburg, spielte er schon früh Theater. Seine Rollen führten ihn auf Bühnen in ganz Europa. „Ich habe eine Zeit lang überlegt, ob ich Schauspiel studiere“, verrät mir Cem. Es wurde dann allerdings doch die theoretische Alternative: Das Studium ‘Theater, Film und Fernsehwissenschaft’.
Ein deutsch-türkischer YouTube-Kanal oder doch ein digitaler Spielplatz?
Sein Engagement scheint dabei keine Grenzen zu kennen. Vor sieben Jahren stand Cem im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 in Istanbul als Orhan Veli in der Hauptrolle im Stück “Ich höre Istanbul” auf der Bühne. In seiner Heimatstadt Duisburg, genauer gesagt im Stadtteil Marxloh, veranstaltet er regelmäßig Theater-Workshops mit Kindern. In Kino- und Kurzfilmen war er als Schauspieler ebenso zu sehen, wie er selbst mit seiner Produktionsfirma Bewegtbilder erschafft. Zusätzlich gibt es seit letztem Jahr noch das YouTube-Format ‘Cemcorder’.
„Ich wusste am Anfang gar nicht, ob ich so politisch sein wollte“, sagt Cem über seinen Kanal. Zunächst ging es ihm eher um eine Art Experimentierfeld, in dem er sich verschiedenen Ideen öffnete. Doch gerade bei den türkischen Themen stellte Cem einen Bedarf an zusätzlichen Informationen fest.
Der Otto-Normal-Mensch hat, wenn er sich seine Medien bei BILD, Tagesschau und Co holt, immer nur diese eine Perspektive auf die Türkei“, erklärt Cem und begründet seinen einwöchigen Türkei-Vlog auch mit der Distanz des deutschen Publikums zum Leben in der Türkei.
„Ich glaube die Deutschen können das von außen nicht beurteilen, wer, wieso und was dort eigentlich für Gefahren schlummern können. Und deswegen wollte ich einen ganz klassischen Alltag zeigen.“
Generell geht es Cem Tekin jedoch nicht nur um einen alternativen Zugang zur Türkei für Deutsche, sondern auch um eine Alternative für die Türk*innen in Deutschland. „Es gibt viele türkische YouTuber in Deutschland, doch die wenigsten haben irgendein Standing, welches politisch ist. Die Meisten machen halt Unsinn oder Quatsch. Sie machen Prank-Videos und Co. Das funktioniert, aber es gibt kaum jemanden, der politisch ist, sehr gerne in Deutschland lebt aber trotzdem den Bezug zur Türkei nicht verloren hat.“
Cem will dabei nicht didaktisch sein. Er beschränkt sich aufs Zeigen. „Es ist ein schwieriger Balanceakt. Ich bin kein klassischer Journalist. Das heißt, alles was ich mache, ist erst einmal subjektiv“, erklärt Cem seine häufigen Hinweise in den politisch eher heiklen Videos. „Es kann halt, wie in Oberhausen, ein relativ objektives Video sein. Aber es hätte auch einfach ein Wort fallen können, wie ‘Die sind ja alle dumm’. Deswegen etabliere ich das von vornherein, weil ich weiß halt nicht, was im Laufe des Tages passiert und an welcher Stelle ich super subjektiv reingrätsche.“
Brücken sind Jenen besonders ausgeliefert, die hinüberlaufen.
Bei der Vielfältigkeit, die Cems Kanal bietet, ist es schwer eine Richtung oder gar Zielsetzung zu erkennen. Es gibt keinen thematischen Schwerpunkt, jedoch lässt sich ein Stil erkennen. „Ich hab ein bisschen den dokumentarischen Anspruch. Ich bin an einem Ort, an dem andere nicht sind und ich versuche dann, ein Gesamtbild von diesem Ort zu schaffen. In der Regel sind das relativ homogene Orte“, beschreibt der Filmemacher seine Videos. So entstanden kleine Beiträge über die Proteste gegen G20 in Hamburg oder vom Gerechtigkeitsmarsch der türkischen Opposition.
Es geht ihm um den Eindruck von wichtigen Ereignissen, den sich sein Publikum vor dem heimischen Rechner machen kann. Manchmal merkt man jedoch, welche Ansichten Cem selbst vertritt. Zum Beispiel an der Art, wie er Fragen stellt oder wie das Video nachher geschnitten wird. „Es ist das dokumentarische Interesse zu sagen, komm ich nehm’ euch mit hierhin, wo ich jetzt gerade bin.“
Die medial gesetzten Schwerpunkte im türkisch-deutschen Verhältnis der letzten Monate sind, so gerechtfertigt sie auch sein mögen, auf die Politik beschränkt. Die Ereignisse belasten nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch das Zusammenleben der einfachen Menschen. Gerade in Deutschland. „Ich wollte so ein bisschen eine Brücke zwischen Deutschen und Türken mit meinem Kanal sein“, erklärt mir Cem. Reaktionen auf die Videos bleiben in den sozialen Netzwerken natürlich nicht aus und sind ziemlich direkt. Man ist nah am Publikum. Das Spektrum umfasst dabei alles zwischen Beleidigung und Dankbarkeit. Besonders auf das ‘America first. Turkey second’-Video gab es viele Beleidigungen. Die gesammelten Screenshots plant Cem in einer Ausstellung zu verwenden. Zu Herzen nimmt sich Cem diese Beleidigungen allerdings nicht, da er weiß, dass es sich bei den Leuten im Netz genauso gut um eine 12-Jährige, wie um einen 50-Jährigen handeln kann. Das Internet ist sehr abstrakt und bisher musste er auf der Straße, also im echten Leben, keine Erfahrungen mit Anfeindungen machen.
Wohin die Reise auch gehen wird, am deutsch-türkischen Content bleibt Cem dran.
Negative Erfahrungen halten Cem Tekin jedoch nicht auf. Es sind bereits weitere Projekte in Arbeit, die ebenfalls einen Türkei-Bezug haben. So steht der Kurzfilm „Gizems Protest“ bereits in den Startlöchern, um auf verschiedenen Festivals präsentiert zu werden. „Es geht um ein Mädchen, dass sich an Zuggleise kettet, als Protest, beziehungsweise aus Solidarität, zu den Ereignissen in Cizre.“ Ein weiterer Kurzfilm ist ebenfalls in Planung.
Bei der ‘Film und Medien Stiftung NRW’ wird Cem in der Kategorie ‘Digitale Inhalte’ eine zwölfteilige Webserie einreichen. ‘Kanaks’ soll das Format einmal heißen, bei dem zwölf Regisseur*innen mit Migrationshintergrund über ihre Perspektive auf Deutschland berichten würden.
Ich muss wieder an die Fernbushaltestelle in Karasu denken. An den jungen Regisseur aus Köln-Ehrenfeld, der hier seine Verwandten besucht. An Cem, der mich mitnahm auf den Gerechtigkeitsmarsch der CHP, auf die Wahlkampfrede von Binali Yildirim und zum Tee mit seiner Familie. „Ich weiß nicht, ob das immer so rüber kommt, aber ich glaube was mir an den Videos wichtig ist, ist dass sie optimistisch sind. Gerade zur Türkei, aber auch zu anderen Themen. Es ist immer so eine graue Wolke über einem. Das ist auch ein bisschen der Ansatz, dass ich versuche mit meinen Videos diese Wolke zu durchbrechen und zu sagen, ‘Hey, es ist gar nicht alles so schlimm und so kompliziert und es gibt definitiv auch Hoffnung in den Themen’. Ich bin kein Typ der sich hinstellt und sagt: ‘Das ist scheiße, das ist scheiße und das ist scheiße’“, hält Cem am Ende unseres Gesprächs noch fest, „Ich zeige meine subjektive Perspektive. Wenn es in irgendeiner Form zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen kann, ist das sehr positiv.“
Text: Navid Linnemann
Fotos: Dilek Turan Linnemann
Redaktion: Aydanur Şentürk