Es ist das alte Haus der „Deutschländer” aus den Sechzigern in Ünalan, einem Stadtteil auf der asiatischen Seite Istanbuls. Hier fängt meine Reise in die Vergangenheit an, als ich einen Teller aus dem Küchenschrank nehme. Gedanken, Gefühle und Emotionen, die sich in diesem Moment bemerkbar machten, lassen mich seitdem nicht mehr los. Denn die Geschichte der Gastarbeiter*innen aus Anatolien, die nach Schirnding an der Tschechischenen Grenze kamen, waren in diesen Porzellantellern eingebrannt.
Wie jedes Jahr im Sommer besuchen meine Eltern aus Stuttgart ihre Verwandten in der Türkei. Fast drei Monate dauert ihr Aufenthalt in dem Haus in Ünalan, das gebaut wurde, bevor mein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland ging. Nur im Sommer ist in diesem alten Haus Leben zu finden – für den Rest des Jahres sind seine Türen verschlossen. Das auf der asiatischen Seite gebaute Haus ist mit allem nötigen ausgestattet, was man zum Wohnen und Leben braucht: Sofas, Betten, Schränke, Teppiche, Töpfe, Gardinen… und Porzellan. Sechs Jahre sind jetzt seit meinem Umzug von Stuttgart nach Istanbul vergangen. Deswegen nutze ich die Gelegenheit, dass meine Eltern in meiner Nähe sind, in dem ich sie öfter besuche. Dabei sitzen wir, meine Mutter, mein Vater und ich, auf dem Balkon und trinken Kaffee oder machen einen Spaziergang. Es ist das übliche was wir sonst auch machen, nichts Besonderes, bis auf den einen einzigartigen Tag. Wie eine Abmachung wartete die Zeit auf mich, genau an diesem Ort, um bei mir Erinnerungen hervorzurufen, mein Bewusstsein anzustoßen. Der Ort dafür war einleuchtend – das alte Haus der „Deutschländer“ aus den Sechzigern in Ünalan. Meine Reise in die Vergangenheit fängt hier an, als ich einen Teller aus dem Küchenschrank nehme. Gedanken, Gefühle und Emotionen, die mir in diesem Moment bewusst werden, lassen mich seitdem nicht mehr los. Seltsam war, dass ich diese Porzellanteller, -schalen und -tassen tausendmal in die Hände genommen, getragen und benutzt hatte. Doch an diesem Tag hielt ich sie zum ersten Mal nicht als irgendeinen Gebrauchsgegenstand, sondern als Wesen in den Händen, die Erinnerungen tragen. Denn mein Berühren war diesmal anders, ich berührte den Teller wie einen alten Freund der Familie und fand in diesem Teller meine Kindheit.
Arbeitsmigration von Anatolien nach Schirnding
Eigentlich fängt die Geschichte in einem kleinen Dorf in Bayern an, das in meinen Erinnerungen als regnerisch und bewölkt auftaucht. Kalt, leer und mit seinen einsamen, bedrückenden Straßen hatte das Dorf damals eine Einwohnerzahl von 2500. 1973 kam mein Vater als Gastarbeiter nach Schirnding in Westdeutschland, um seine Familie zu versorgen. Wie mein Vater kamen sie, seine neuen Arbeitskollegen, aus ganz Anatolien, aus den Städten Sivas, Malatya, Kayseri, Konya, Erzurum, Samsun, Trabzon mit Holzkoffern nach Deutschland und ließen ihre Kinder, Ehefrauen, Mütter und Väter in der Heimat zurück. Mein Vater und seine neuen Arbeitskolleg*innen hatten in diesem neuen Land, mit fremder Kultur und einer unbekannten Sprache, das bis vor 28 Jahren noch von den Nationalsozialisten regiert wurde, große Schwierigkeiten, Fuß zu fassen. Manche von ihnen kannten bis dahin nur ihr Heimatdorf, einige von ihnen besuchten zum ersten Mal in ihrem Leben eine Arzt, denn nur wer gesund, war durfte nach Deutschland. Sie kamen aus den Dörfern Anatoliens, wo das Leben ohne Strom geführt wurde und brachten mit sich Hoffnung, Furcht und Sehnsucht. Mit dieser Unwissenheit fingen mein Vater und seine neuen Arbeitskolleg*innen (Reisepartner/ Reisebegleiter) am Tag nach der Ankunft in der Porzellanfabrik an zu arbeiten. Die Ankunft der Gastarbeiter*innen am Hauptbahnhof München führte dazu, dass ein neues Kapitel der deutschen Geschichte begann, was zu diesem Zeitpunkt keiner ahnte. Das am 31. Oktober 1961 zwischen den beiden Staaten unterzeichnete deutsch-türkische Arbeitsabkommen hatte vorgesehen, dass die Arbeitskräfte aus der Türkei nach 3 bis 4 Jahre wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nach ein paar Jahren entschieden sich aber viele Gastarbeiter*innen zu bleiben, holten ihre Familien nach und Deutschland wurde ihr neues Heimatland. Dies führte dazu, dass die Gastarbeiter*innen bald die “unerwünschten Arbeitskräfte” im Land wurden. Ihre Reise in die Fremde (oder wie man auf Türkisch sagt: „Gurbet“) sollte später bei Ausstellungen in Museen thematisiert und an Universitäten in Doktorarbeiten vorkommen, auch deutsche Medien und die Politik sollten sich noch für sie interessieren – und mit der Zeit sollten all diese Arbeiter*innen für mich zu meinen Onkels und Tanten in Deutschland werden…
Das Porzellan, meine Kindheit und Onkels
Meine Mutter, mein Bruder und ich – noch im Bauch meiner Mutter – haben 4 Jahre später das uns damals fremde Land Deutschland betreten. Das Land, das mit so vielen seiner Eigenschaften weit weg vom Land meiner Vorfahren (Großeltern) war. In fast jedem Dorf und jeder Kleinstadt in der Umgebung von Schirnding, wo ich auch aufgewachsen bin, befanden sich ein bis zwei Porzellanfabriken. In manchen dieser Fabriken wurde Porzellan hergestellt, das zu den führenden Marken Deutschlands gehörte. Moderne Kunst und Tradition kamen bei diesem Kunststück mit Erfolg zusammen. Seine Produktion war nur mit hoher Leistung möglich, an seiner Entstehung waren Mühe und Kraft beteiligt – und die Hände von meinem Vater, meinen Onkels und Tanten. Fast jede*r, der 1973 mit meinem Vater aus Anatolien kam, war in der Porzellanindustrie tätig. Deshalb ging es in den Gesprächen in unserem Haus fast immer um Porzellan, um das Bereitstellen von Material, Zeichnen und Formen waren die Hauptthemen von meinen Eltern und unserem Besuch. Zum Beispiel erzählte Tante Fadime jedes Mal, wie sie auf einem Teller zeichnete und Onkel Ilyas von neuen Mitarbeiter*innen. Wenn wir irgendwo zu Besuch waren, haben wir unser Essen aus den Tellern mit den mediterranen Farben und den eleganten Zeichnungen gegessen, den Kaffee aus den barock geformten Tassen getrunken und bei den Gesprächen ging es wieder und wieder um die Herstellung von Porzellan und um die Kaffeetassen, aus denen wir nippten. In unserem Keller und dem von unseren Nachbarn in Schirnding hatte sich Porzellan angesammelt. Sie wurden nur herausgeholt, wenn man einen Geschenk für eine Hochzeit oder Geburtstag brauchte. Unser Haus war schon fast mit Porzellan überfüllt, meine Mutter war damit beschäftigt noch mehr anzuschaffen und mein Vater diskutierte ständig mit ihr, wie man es wieder aus dem Haus werfen könnte. Somit kam das Porzellan in das Haus in Ünalan in dem wir jedes Jahr unseren Urlaub verbrachten.
Das Archiv der Erlebnisse und der Vergangenheit
20 Jahre später strahlen nun diese Teller wie ein Archiv vor meinen Augen, als hätten sie die Erlebnisse der Vergangenheit aufgezeichnet, denn in meinem Gedächtnis kommen Erinnerungen hoch. Diese Teller aus dem Küchenschrank, die mich mein Leben lang begleiteten, die Gespräche, Streitigkeiten vom Esstisch oder aus irgendeiner Ecke in unserem Haus in Schirnding aufnahmen und das Gefühl von einem Archiv erzeugten, sie stehen jetzt ganz alleine im Regal und beobachten mich von dort aus. Auch wenn ich mir mehr vom Porzellan anschaffen möchte, da ich erst jetzt seine Schönheit bemerke, ist es leider nicht mehr möglich, denn die Porzellanindustrie in der Gegend ist ausgestorben. Mit der Wende wurde die Produktion ins Ausland verlagert, die Kosten sanken dadurch und somit haben die Porzellanfabriken nacheinander geschlossen. Meine Onkels und Tanten von damals, die das Porzellan gefertigten, sich dafür abrackertern, ihre Familien, Kinder, Geschwister und die Heimat hinter sich ließen, um Geld zu verdienen, sind jetzt verstorben. Von den stummen Zeugen meiner Vergangenheit sind nur noch die Teller im Regal, ein paar Kaffeetassen und ein paar Unterteller übriggeblieben. Wenn ich vor ihnen stehe, sehe ich die zurückgelassenen Menschen und die Werte, die leider nicht mehr zurückkommen werden.
Text und Bilder: Şengül Mor
Dieser Text ist zuerst auf Türkisch in der Zeitung BirGün erschienen. Hier könnt ihr die Originalfassung lesen.