Der 15. Juli ist in der Türkei nicht mehr nur irgendein Tag, sondern markiert eine Zäsur: Denn der 15. Juli 2016 ist der Tag eines Putschversuchs. Unsere Autorin Carina Plinke lebte zu dieser Zeit in Istanbul und erinnert sich.
Als ich mir die Zähne putzte, kamen die Flieger. Das erste Geräusch ist das schlimmste. Es zerreißt dich. Es ist so laut, dass du es nie wieder vergessen kannst. Es hat richtig lange gedauert, bis ich die Zahnbürste danach weggelegt habe. Vielleicht, weil es der letzte Rest Normalität in diesem Moment war. Ein paar Stunden vorher, war ich mir noch sicher, dass bald die schönste Zeit meines Lebens anbrechen würde. Für zwei Wochen später war der Geburtstermin meines ersten Sohnes ausgerechnet. Der 15. Juli hat mich verändert. Und es war bloß ein Tag.
Ich weiß noch wie ich hochschwanger auf dem auf dem Sofa lag, das Fenster war einen Spalt geöffnet und ich hörte der Stadt zu. Sie klang wie immer. Die Stadt wurde von dem Terroranschlag am Atatürk Flughafen knapp drei Wochen vorher sehr verletzt, aber der Terror bekam sie nicht klein. Ich glaubte noch einen ganz kurzen Augenblick wirklich daran, dass die Stadt sich von all dem Terror bald erholen würde und wieder ganz zu meinem alten Istanbul werden würde. Ich wollte sie nicht verlassen.
Ich streichelte meinen Bauch, in dem mein Sohn schlief. Ich spürte keine Bewegungen. Ich schloss die Augen, lauschte der Stille und schaute aus dem Fenster auf die Bolahenk sokak. Daire bir. Ich liebte diese Straße. Ich liebte diese Wohnung. Mein Handy klingelte.
„Schöne Scheiße!“ Meine Freundin mit kurdischen Wurzeln war am Telefon. Sie war erst kürzlich von Übersetzungsarbeiten zwischen kurdischen Soldaten und der deutschen Bundeswehr von der Front zwischen Peschmerga und IS aus dem Irak zurück nach Deutschland gekehrt.
„Was ist los?“ Sie sorgte sich sehr um mich in der Türkei. Es nervte mich fast. Ich fühlte mich auf eine merkwürdige Art ungerecht behandelt, weil ich ihr nie vorgeworfen hatte, dass sie in den Irak geflogen ist, als dort Krieg ausgebrochen war. Sie wusste einfach einiges besser.
Sie war aufgeregt: „Ja, Militärputsch. Guckst du keine Nachrichten?“
„Warte!“, sagte ich. Ich rollte mich vom Sofa und wollte es noch nicht glauben. Aber als ob eine Frau, die selber mit 8 Jahren aus einem Kriegsgebiet geflohen war, damit einen Witz machen würde. Ich sagte meinem Mann, er solle den Fernseher anschalten. Auf dem Bildschirm erschienen Bilder aus einem mit Soldaten besetzten Fernsehstudio von TRT. Es stimmte. Ich verstand immer noch nicht so recht.
Ich sagte: „Okay. Ich muss jetzt auflegen!“ und setzte mich aufs Sofa. Ich war sehr aufgeregt, denn ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was in den nächsten Stunden passieren würde. Geschichtsstudium hin, Geschichtsstudium her, ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was in den nächsten Stunden passieren würde.
Mein Sohn trat nun im Sekundentakt in meinen Bauch. Ich legte mich zurück aufs Sofa und versuchte mich zu beruhigen. Meine Unruhe nicht auf meinen Sohn zu übertragen, der in meinem Bauch zu toben begann. Ich sah hilfesuchend zu meinen Mann, der aufgeregt mit seinem besten Freund telefonierte und meine Hand hielt. Ich ließ mich zum letzten Mal vom Wind der Stadt streicheln, die ich mal mehr als jede andere Stadt geliebt hatte. Istanbul war da für mich. Nur noch für ganz kurze Zeit. Nur für mich. Manchen spielte der Wind vom Bosporus da schon den dumpfen Widerhall der Schüsse von der Brücke zu. Manche haben da vielleicht schon geahnt, was in den nächsten Stunden passieren würde. Wahrscheinlich kannten fast alle Istanbuler die Stadt besser als ich.
Das erste Geräusch war das schlimmste. Es zerreißt dich. Es ist so laut, dass du es nie wieder vergessen kannst. F16 Jets über meinem Kopf, im Tiefflug über unserem Haus. Der Lärm, wenn sie die Schallmauer durchbrachen, war unerträglich. Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst.
Istanbul, die Stadt, die für mich einst die absolute Freiheit bedeutet hatte, wurde zu einem Käfig, in dem die Gewalt von oben kam. Mit Nachdruck. Ich hatte Angst raus zu gehen, ich hatte Angst drinnen zu bleiben. Wohin konnten wir uns flüchten? Wie konnte ich mein Baby in meinem Bauch schützen. Und vor wem überhaupt? Da bombardierte uns jemand, aber ich wusste nicht wer.
Ich hatte Angst. Ich rief Freundinnen in Deutschland an und sagte ihnen am Telefon, dass ich Angst habe. So deutlich habe ich das noch nie in meinem Leben vorher gesagt.
Nachts, es ist circa ein Uhr in Deutschland. Drei Uhr in der Türkei. Immer wieder Jets. Dann die erste Explosion, die Hauswände wackelten, im selben Moment zersprangen die Scheiben, wir flüchteten uns ins Badezimmer und ich sank ohne Zahnbürste auf den Boden, hielt mir die Ohren zu und wünschte mir nichts mehr, als dass der Mutterleib eine undurchdringbare Festung war. Dass mein kleiner Sohn nichts von all dem hörte. Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Aber wer will so etwas schon erleben?
Wir, mein Mann und ich, wollten Ruhe bewahren, mutig sein, aber wir zitterten heimlich. Mein Mann gestand mir später, dass seine größte Angst war, dass unser Sohn in dieser Nacht geboren werden würde. Doch er blieb im Bauch. Und ich dachte immerzu an den Satz, den ich vor kurzem von einem Kriegszeugen aus dem ehemaligen Jugoslawien gehört hatte. Krieg kann innerhalb von wenigen Minuten ausbrechen, dazu braucht es nur ein paar Idioten. Die Flughäfen waren zu, sagten die Nachrichten, das Militär verhing das Kriegsrecht. Hieß das, ich bin im Krieg? Im Bürgerkrieg? Schmiss das putschende Militär wirklich Bomben auf uns? Auf ihre eigene Bevölkerung? Das schien mir unvorstellbar. Ich weiß bis heute nicht genau, was passierte, nur wie ich es erlebte. Ich weiß nur irgendwo auf dieser Welt werden gerade Zivilisten von ihren eigenen Regierungen getötet. In Istanbul damals waren es nur sound bombs. Aber woher soll man so etwas auch wissen?
Und dann plötzlich andere Nachrichten, Erdoğan meldete sich vom Flughafen Atatürk, war in Istanbul gelandet, sagte es sei nur ein geringer Teil, der putschen will, die Menschen sollten auf die Straße, für ihr Land, für Demokratie, für ihre Freiheit.
Es war schrecklich egoistisch, aber mir war egal, wie das ganze ausging, ich wollte einfach nur keine Militärregierung, ich wollte einfach nur, dass die Jets nicht wiederkommen, ich wollte meinen Sohn in einem Land gebären, in dem keine Soldaten mit Maschinengewehren durch die Straßen gingen und kontrollierten, ob Ausgangssperren eingehalten werden. Ich wollte abends am Bosporus spazieren gehen, dachte ich, als nach vielen Stunden Straßenschlachten und einer Nacht voller Kriegslärm die Nachricht über den Fernseher lief, dass der Versuch gescheitert war.
Die Jets kamen nicht wieder, aber viele Bilder der folgenden Tag waren nicht weniger erschreckend, machten nicht weniger Angst. Ein Volk übte sich in Selbstjustiz. In den Augen der Rächer wütete der Hass. Ihre Aggressionen wurden gegen jene gerichtet, die ihr Land und ihren Präsidenten verraten hatten. Soldaten, die am Militärputsch beteiligt waren, wurden auf offener Straße gelyncht. Ein Land im Ausnahmezustand.
Meine kurze Hoffnung, dass nach diesem Putschversuch die Bevölkerung wieder besser zueinander findet, erlosch viel zu schnell. Aggressionen erzeugen Gegenaggressionen und Angst führt auch nicht gerade zu Vernunft.
Die Nächte danach hatte ich viele Fragen. Wollte ich meinen Sohn noch in der Türkei zur Welt bringen? Natürlich ist bei dieser Fragestellung nicht in Ordnung, dass ich mir das aussuchen darf und andere nicht. Ich schämte mich. Das was ich erlebt habe, war nur eine Nacht. Wenn ich heute die Militärgewalt von Israel auf Palästina und die Rückschläge der Hamas auf dem Bildschirm sehe, quälen sie mein Herz. Darf ich sie mir ersparen?
Eine Nacht ist gar nichts. Trotzdem hatte ich Angst. Trotzdem hat mich diese Nacht verändert. In dieser Nacht war etwas in mir kaputt gegangen, das ich nie für möglich gehalten hätte. Ich habe die Welt geliebt. Ich habe Menschen geliebt, ja wirklich eigentlich alle. Und ich habe an Menschen geglaubt. Jetzt weiß ich es nicht mehr. In mir ist dieser große Weltschmerz entstanden, dass die Welt nicht so ist, wie man sie sich als Kind vorgestellt hat. Ich bin spät erwachsen geworden. Ich hatte Glück.
Darf ich die unerträglichen Bilder nun weg schalten um nicht jeden Abend an all die Menschen, die so etwas Nacht um Nacht immer wieder erleben müssen zu denken. Oder muss ich erst recht genau hinschauen, um endlich etwas zu tun. Aber was? Ich träume von Frieden.
Genau ein Jahr danach, am15. Juni 2017 saß ich am Schreibtisch und draußen knallte es wieder. Es sind bloß die Kölner Lichter. Ich war zurück gekehrt und ich fragte mich, warum die Menschen aus Freude am Licht, dieses schreckliche Geräusch erzeugten. Und ich fragte mich, wie sich die Kinder aus Kriegsgebieten gerade fühlten. Dann schloss ich alle Fenster, küsste meinen Sohn und ging schlafen. Ich wollte mir das Feuerwerk nicht anschauen. Allein die Geräusche machten mir Angst vor den Menschen.
Vielleicht waren all diese Menschen am Rheinufer noch nicht erwachsen geworden. Vielleicht hatten sie Glück und wussten es gar nicht.
Text: Carina Plinke
Illustration: Manijé Angaji