Für die Dokumentation „Wir sitzen im Süden“ begleitete Martina Priessner vier Menschen, die in Deutschland großwurden und dann in Istanbul in Callcentern arbeiteten. Über sieben Jahre sind die Dreharbeiten zu dem Film her – und einige Fragen ließ der Film offen. Die ProtagonistInnen Murat und Çiğdem habe ich deshalb noch einmal getroffen, um mit ihnen über das zu sprechen, was im Film zu kurz kam und sich seitdem verändert hat. Çiğdem ist 2007 von Berlin nach Istanbul gezogen, Murat hingegen sucht nach einem Weg zurück in die deutsche Heimat, seit er als Fünfzehnjähriger von seinen Eltern in die Türkei gezwungen wurde.
“Ich hab nicht vor, zurückzugehen. Das ist der einzige langfristige Plan, den ich hab: Ich will hier alt werden” sagt Çiğdem im Film, aber auch “Ich kann jederzeit zurück, ich hab den bordeauxfarbenen Pass in der Tasche”. Nun macht sie Letzteres wahr. Nach zehn Jahren in Istanbul wird sie im Juli wieder nach Deutschland ziehen, zu belastend ist für sie die politische Situation geworden. “Ich kann hier ja auch nichts machen” sagt sie, ohne die türkische Staatsangehörigkeit kann sie sich nicht in einer Partei engagieren, “auch das, was ich tue, ist viel zu wenig, was ich tun kann”. Und so ist letztes Jahr die Entscheidung gefallen. Trotz der extremen Gewissensbisse, weil sie so viele hier “im Stich” lässt. “Ich hab die privilegierte Situation, sie zurücklassen zu können”.
Ein Privileg, das Murat vermisst. Die Redewendung “der bordeauxfarbene Pass” aus einer Zeit, in der der türkische noch blau war, hat er beim Filmdreh von Çiğdem übernommen. Der Pass selbst bleibt ihm seit 30 Jahren verwehrt. Nach einer Kindheit in Hessen ist er mit 15 Jahren “regelrecht hierher verschleppt worden”. Im Hinterzimmer fassten seine Eltern den Beschluss, wieder in die Türkei zurückzukehren. “Ich wusste ja gar nichts von einer permanenten Rückkehr”, die Selbständigkeit ihrer Kinder war den Eltern ein Dorn im Auge, “sie hatten Angst, dass ich ihnen aus den Händen gleite”. Vom Deutschland Mitte der Achtziger in eine Türkei, die noch unter dem Eindruck des letzten Militärputsches stand – eine traumatische Erfahrung: “Ich wusste gar nicht, wie ich mir mein Leben in der Türkei vorzustellen hatte. Erst so langsam wurde ich mit der ‘richtigen’ Türkei konfrontiert, die kannte ich gar nicht. Mein Türkeibild stammte bis dahin nur aus Eindrücken aus dem Urlaub”. Auf den alltäglichen Ausländerhass, dem Murat in Deutschland ausgesetzt war, folgte erneut Ablehnung. Auch in der Türkei fühlte sich Murat wieder als “ein Außenseiter, ein Exot, ich war nirgendwo richtig angekommen hier, weil ich mehr das Deutsche repräsentierte, das mochten die Leute nicht”.
In seiner Heimat Deutschland galt damals noch ausschließlich das Abstammungsprinzip: Nur wer Eltern mit einem deutschen Pass hatte, bekam auch den deutschen Pass direkt bei der Geburt. Während Murat bis heute vergeblich hinter der deutschen Staatsangehörigkeit her ist, hat Çiğdem sie seit 1998. Anders als ihre Eltern und Geschwister hat sie nach der Einbürgerung in Deutschland auf die türkische Wiedereinbürgerung verzichtet. Nach der Diskussion mit dem Konsularbeamten um verloren gegangene Papiere, in der er sie als “untürkisch” beschimpfte, ist das für sie auch ein politisches Zeichen: ”Da hab ich den ungültigen Pass genommen, hab’s wieder in seine Richtung geworfen und gesagt: ‘Bevor ich ‘n Türke bin wie du, bin ich lieber keine!’”. Abgesehen von den Türen, die er öffnet, bindet sie emotional nichts an irgendeinen Pass.
Ganz anders ist es für Murat: “Ich begreife es bis heute nicht! Leute wie mich zum Beispiel, die sich immer noch als Teil von Deutschland empfinden – es müsste für uns doch einen Weg geben zurückzukehren in das alte Leben!”. Was für viele ein einfaches Stück Papier ist, verbindet er mit sehr viel mehr. Nach wie vor gerät er in Rage, wenn er darüber spricht. Das dreißigjährige Streben nach Anerkennung sucht sich dann sein Ziel in Unmut bis Wut: auf die, die in seinen Augen den Pass nachgeworfen bekommen und nicht zu schätzen wissen, auf KollegInnen aus Deutschland, denen erst in der Türkei auffällt, wie viel Freiheit sie in Deutschland hatten, vor allem aber auf PolitikerInnen. Ob der Groll auch damit zu tun hat, dass er so unvermittelt entwurzelt wurde und sich nie frei entscheiden konnte? “Ja absolut, das ist ja unter anderem auch der Grund, warum ich mich so ins Unglück gestürzt sah, auch bewusst, durch meine Eltern.” Denen hat er, im Gegensatz zur deutschen Politik, aber irgendwann verziehen. “Was soll ich mich da ewig ärgern. Diese ganzen Beschuldigungen, das hat doch keinen Sinn mehr, ich muss einfach in die Zukunft gucken. Natürlich bin ich sauer auf die Politiker, weil sie eher diejenigen sind, die meine Rückkehr nicht ermöglichen, nicht meine Eltern!”
So abrupt wie Murat aus seinem Leben in Deutschland gerissen wurde, so schleichend reifte bei Çiğdem der Entschluss, dauerhaft nach Istanbul zu ziehen. Geboren in der Türkei, großgeworden in Süddeutschland, später Fuß gefasst in Berlin, fühlt sie sich bis heute keinem Ort zugehörig. “Ich hatte aber immer das Gefühl von Ankommen, wenn ich hier in Istanbul war”. Den Ausschlag gegeben hat dann aber die ständige Reduktion ihrer Person auf ihre türkische Herkunft: “Wenn ich da von ‘ner Zwanzigjährigen gehört hab: ‘Du sprichst aber gut Deutsch’ – in den 2000er Jahren, wo die Leute schon fünfzig, sechzig Jahre in Deutschland leben, immer noch dieser Alltagsrassismus… dieses Ankommen und Akzeptiertwerden, das war wohl das, was mir gefehlt hat in Deutschland.” Umgekehrt spielt ihre deutsche Identität für die Menschen in Istanbul kaum eine Rolle, was Çiğdem auch der Stadt zuschreibt: ”Diese Interkulturalität – darauf baut die Istanbuler Geschichte, die Geschichte dieser Istanbuler Menschen, auf. Sie sind so, weil sie diese Vergangenheit haben!”
Die deutsche Vergangenheit begleitet sie aber bis heute, sei es im überwiegend deutsch-türkischen Freundeskreis oder bei der Arbeit als Führungskraft im deutschsprachigen Callcenter. Zur callcentertypischen ermüdenden Routine kommen in Istanbul noch die Lebenshaltungskosten, die im Verhältnis zum Gehalt durchschnittlicher Callcenterangestellter deutlich höher sind als in Deutschland. Wenig verwunderlich, dass dann die meisten AgentInnen den Job auch machen, weil sie wie Murat keine Möglichkeit haben nach Deutschland zurückzukehren. Doch obwohl Ciğdem den Anteil der an der Rückkehr Gehinderten an der Callcenterbelegschaft auf mindestens 70 Prozent schätzt, hat Murat hier trotzdem keine Seelenverwandten.“Ich hab keinen getroffen, der so empfindet wie ich”, sagt er, “außer Fatoş und Bülent aus der Doku”. Die Arbeit beim deutschen Arbeitgeber möchte er aber auch nach 13 Jahren trotz der immer gleichen Abläufe nicht missen: “Es ist einfach die Stimmung, es ist mir ein Zuhause geworden”. Erst letztes Jahr hatte er durch seinen Arbeitgeber die Chance auf eine dauerhafte Rückkehr – doch trotz des Arbeitsvertrags für den Berliner Sitz legte das Arbeitsamt ein Veto ein. Und der Traum platzte ein weiteres Mal.
Trotz der vielen Rückschläge hat Murat den Kampf noch nicht aufgegeben. Im Sommer wird er ein weiteres Mal nach Berlin fliegen und sein Glück mit Hilfe eines Anwalts versuchen. Çiğdem wiederum hat die Hoffnung für die Türkei noch nicht aufgegeben. “Die Exilanten haben in den 80ern von Deutschland aus so viel erreicht, vielleicht muss man sich das als Vorbild nehmen. Vielleicht kann ich dort wirklich mehr bewirken.” In dem emotionalen Zwiespalt, in dem sie vor zehn Jahren an den Bosporus zog, verlässt sie nun die Türkei. Von einem langfristigen Plan spricht sie dieses Mal nicht.
Text: Simon Feyrer
Bilder: Navid Lindemann, Aleksander Meltser, pangeafilm/ZDF