Wer Lust auf einen rasanten modernen Roman hat, sollte Önders Debüt lesen. Ein Roman, in dem die Autorin die Sprache so beherrscht, als hätte sie eine ganz neue Kunstform erschaffen. Ein Roman, der die Leserschaft so tief in das surrealistische Bild einer jungen Frau wirft, dass sie Traum und Realität kaum auseinanderhalten kann.
In Yade Yasemin Önders Roman „Wir wissen wir könnten, und fallen synchron“ erzählt eine namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Leben als Tochter binationaler Eltern zwischen Deutschland und der Türkei. Während des Erzählens bearbeitet die Erzählerin eine Vielzahl unterschiedlicher Themen und vereint sie auf eine so natürliche Weise, wie es sonst nur das Leben kann. Es geht um die Pubertät und die sexuelle Entwicklung einer bulimischen Jugendlichen, die zwischen zwei Kulturen aufwächst und auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist, jenseits von stigmatisierenden Fremdzuschreibungen. Es geht um Rassismuserfahrungen und toxische Familienverhältnisse. Es geht um Missbrauchserfahrungen und die sexuelle Entwicklung als Herausforderung für junge Mädchen, irgendwo zwischen Grenzüberschreitungen und der Sehnsucht nach neuen Erfahrungen, irgendwo zwischen Lust und Schmerz.
Ausatmen und mich wieder finden, zwischen Traum und Realität
Als ich den Roman zu Ende gelesen hatte, musste ich erstmal ausatmen. Während des Lesens hatte ich manchmal Atemaussetzer, manchmal Schnappatmung, weil ich mit der Geschichte kaum mitkam. Nachdem ich ausgelesen hatte, musste ich nochmal zurückblättern. Auch noch ein zweites und drittes Mal. Ich habe das Buch ausgelesen, aber ich habe noch nicht alles entschlüsselt. Beim Nachlesen wird noch deutlicher, wie besonders dieser Roman ist. Der Roman ist eine Spurensuche, sowohl im Aufbau als auch in seiner Sprache. In seiner Struktur ist er nicht immer leicht und die unzuverlässige Erzählerin mutet den Leser:innen einige Kuriositäten zu, versöhnt jedoch unmittelbar mit der Schönheit sprachlicher Bilder. Es ist lange her, dass ich solch einen facettenreichen Roman gelesen habe. Wenn mich jemand fragen würde, was einen modernen Roman von der klassischen Literatur unterscheidet, würde ich sagen: Lies Yade Yasemin Önder. Lies diesen Roman, in dem die Autorin die Sprache so beherrscht, als hätte sie eine ganz neue Kunstform geschaffen und den/die Leser:in so tief in das surrealistische Bild einer jungen Frau wirft, dass er/sie Traum und Realität manchmal kaum auseinanderhalten kann.
Die Ich-Erzählerin ist ein Jahr nach der Katastrophe in Tschernobyl geboren, als Kind einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters. Ihr Vater stirbt bei einem Unfall mit einer Kreissäge. Er wird dabei gleich zu Beginn des Romans in viele kleine Stücke zerteilt. Trotz seines Todes bleibt der schwergewichtige Vater präsent. Sein Übergewicht unterstreicht die Gewalt, die von ihm ausging, drängt ihn gleichzeitig in eine Defensive, die von der sadistischen Mutter kontrolliert wird. „Die Mutter befiehlt, der Vater schlägt, die Tochter weint. Der Vater hat sich anstecken lassen von der Wut seiner Frau, von dem Marsch aus Hass, den sie jetzt gemeinsam blasen […]. Schlag weiter, die tut nur so ohnmächtig.“
„[…] was glaubst du eigentlich, wer du bist?“
Über 250 Seiten begleiten wir die Ich-Erzählerin zurück an die verschiedensten Stationen in ihrem Leben. Darunter in die Schule („danach will der Deutschlehrer meine Interpretation vor der gesamten Klasse interpretieren. Er zeigt auf mich, Du, sagt er, wie spricht man deinen Namen aus? In diesem Moment fliegen alle Worte hoch und schweben durch den Raum“), in die Klinik, in der sie es schlussendlich schafft ihre Essstörung zu besiegen („Lass mich wieder in dich, wir wollen doch zusammenbleiben, presst es hervor, dem Tod schon ganz nah. Als ob du einfach nach Lust und Laune wieder in mich reinkannst, was glaubst du eigentlich, wer du bist?! Und was es da geantwortet hat, das kann man sich wirklich gar nicht vorstellen“) und bei ihren Erfahrungen mit Männern, die sprachlich ihren kunstvollen Höhepunkt in dem Kapitel „Wer im Sommer weint, der meint es ernst“ findet. In Form einer Auflistung stellt sie 55 Männer vor und jede Vorstellung beginnt mit „Einer“, ohne Namen verschwinden die Männer in einer anonymen Gruppe an Liebhabern. Keiner dieser Einblicke in das Leben der Ich-Erzählerin wirkt trotz ihrer Kuriosität deplatziert. Sie veranschaulichen den Begriff, der im Titel schon vorkommt. Was uns im Leben passiert, das passiert nicht nacheinander, sondern synchron. Manchmal ist das Leben synchron gut und manchmal auch synchron scheiße und manchmal ist es auch ein wirres Durcheinander, in dem man fällt.
Die Autorin Yade Yasemin Önder, geboren 1985 in Wiesbaden, studierte Literatur- und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt in Berlin. 2018 gewann sie den renommiertesten Schreibwettbewerb Berlins „Open Mike“.
„Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ ist ihr erster Roman und er ist wirklich ein ganz besonderer Roman, den man nicht so schnell wieder vergisst. Auch weil er beim Lesen herausfordert, im positiven Sinne.
Text und Foto: Carina Plinke