Die erfolgreiche türkische Serie Ein guter Mensch (Originaltitel: Şahsiyet) hat es auch ins deutsche Fernsehen geschafft. Hauptdarsteller Haluk Bilginer erhielt für seine Hauptrolle den International Emmy Award. Unsere Autorin Zeynep Ünal hat sich die Serien zwischen mörderischer Handlung und Gesellschaftskritik mal näher angeschaut.
Agâh Beyoğlu, ein Gerichtsangestellter im Ruhestand, bekommt die Diagnose Alzheimer. Als klassischer „Istanbul beyefendisi“ – stets elegant gekleidet – ist er höflich, gebildet und sehnt sich nach dem alten Istanbul.
Seit Jahren zerreibt es ihn zwischen seinem Verlangen nach Rache und seinem Gewissen. Doch dieser ewige Gewissenskampf endet mit seiner Diagnose, die ihn endlich zu seinem tödlichen Racheentschluss ermutigt. Denn, so denkt er sich: Er wird sich ja nicht mehr an seine Morde erinnern, sodass er ohne Reue auf die Jagd gehen kann. Dabei geht es ihm in erster Linie um Gerechtigkeit und das Vergessen einer schrecklichen Tat in einer türkischen Kleinstadt. Die Ironie jedoch ist, dass gerade das durch seine Krankheit bedingte Vergessen ihm dabei helfen wird, das Vergessen jener grausamen Tat zu rächen.
Nach jedem begangenen Mord findet sich ein Hinweis am Tatort, der für die Kommissarin Nevra (Cansu Dere) vorgesehen ist. Die einzige Frau im Morddezernat, die mit Vorurteilen zu kämpfen hat und sich stets als Frau beweisen muss. Im Laufe der 12-teiligen Serie wird schnell deutlich, dass die Hinweise sie zu einem Ereignis führen, das sie längst vergessen bzw. verdrängt hat.
„Ein guter Mensch“ ist keine typische Thriller-Serie, in der man viele blutige Szenen voller Action erwarten darf und doch steigt die Spannung mit jeder weiteren Folge. Sie bringt die Gedanken nicht zum Ruhen; im Gegenteil: Sie regt zum Nachdenken an.
„Ein guter Mensch“ beinhaltet vor allem eines – Kritik.
Es ist die Kritik an der heutigen türkischen Gesellschaft, die im Vordergrund steht. An einer Gesellschaft, die gerne Ereignisse vergisst, die niemals vergessen werden sollten und die leider viel zu oft weggesehen hat. Toxische Männlichkeit, Sexismus, Doppelmoral, Fremdenfeindlichkeit, die Kultur des Schweigens und Korruption sind die Schlagwörter, die „ein guter Mensch“ u. a. behandelt.
Und doch führen all diese Schlagwörter letztendlich zum eigentlichen Punkt: Dem Femizid.
Alle Hebel werden in Gang gesetzt, um Femizide zu vertuschen. Die Justiz spielt mit, die Gesellschaft schaut wissentlich weg, investigative Journalisten schweben in Lebensgefahr, damit sie ja nicht dazu kommen, das „saubere“ Bild einer Gesellschaft auch nur annähernd zu beflecken, Opfer fühlen sich „beschmutzt“ und bleiben still. So lange, bis ihre eigene Stille sie in den Selbstmord treibt und ihre Stille damit unendlich wird.
Zeitgleich wirft die Serie die Frage auf, ob die Selbstjustiz verherrlicht wird oder ob in einer Gesellschaft, in der Moral und Gerechtigkeit keinen festen Halt mehr haben, Selbstjustiz eben doch gerechtfertigt werden kann. Was verstehen Protagonist:innen und Gesellschaft unter Gerechtigkeit? Ist die Justiz tatsächlich immer dazu fähig, die Gerechtigkeit herbeizuführen oder ist es doch eher eine Wunschvorstellung, dass sie dies könnte, weil am Ende doch wieder „nur“ Menschen am längeren Hebel sitzen, welche die vermeintliche Justiz ausüben und der ethische sowie moralische Ausgang eines Falls, von ihrer eigenen moralischen Vorstellung abhängt? Es sind Fragen, die beunruhigen können. Insbesondere dann, wenn man glaubt, man hätte eine gefestigte Meinung darüber, was “rechtens” ist.
Während die ersten Folgen nur langsam in Fahrt kommen, steigt die Spannung mit jeder weiteren Folge. Die musikalische Untermalung, die überwiegend aus Synthwave besteht, ist brillant. Einige Dialoge wirken zwar etwas überflüssig, stören das Gesamtbild aber nicht. Nicht umsonst gilt „Ein guter Mensch“ als eine der besten Serien in der türkischen Fernsehgeschichte. Sensibelste Themen werden erschütternd und dennoch humorvoll und raffiniert aufgegriffen.
Text: Zeynep Ünal
Foto: Show TV