Eine unbenannte Industriestadt irgendwo in der Triste Deutschlands. Ein Aufwachsen innerhalb rassistischer Strukturen. Eine Kindheit voller Fragezeichen. Und eine Rückkehr an diesen Ort, um zu betrachten, was war und immer noch ist.
Deniz Ohdes Roman „Streulicht“ nimmt uns mit hinter die Haustür einer Familie, deren Wohnung ein Geheimnis war, „das wir zu hüten hatten, dessen wir uns schämten.“ In ein Zuhause und eine Welt, die stets etwas abgetrennt zu sein scheint von „den Anderen“. Die Anderen, deren Namen in den Schulbüchern vorkommen. Die Anderen, deren Kindheit aus Ballett und Reitstunden besteht. Die Anderen, die träumen und wünschen dürfen: „Ich ging von Anfang an davon aus, dass die Plätze an der Sonne für andere reserviert waren, diese diffusen „anderen“, von denen mein Vater immer sprach und die je nach Umgebung ihre Gestalt ändern konnten.“
Wir begleiten die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nie erfahren, in ihrem Werdegang in einem rassistischen und klassizistischen Schulsystem, in dem sie als Kind und Jugendliche nur ahnen kann, das etwas nicht stimmt. Sie mutmaßt, es liegt an ihrer Kleidung, daran, dass sie kein Gemüse mit in die Schule nimmt, daran, dass ihre Eltern keine Tageszeitung lesen. Es folgen Schulwechsel um Schulwechsel, doch das entfremdete Gefühl bleibt.
Eine Protagonistin im Überlebensmodus
“Streulicht” zeigt die Suche nach Identität, in einer Zeit, in der in Deutschland Häuser brennen und in einer Zeit, in der der 11. September das Leben in Deutschland für migrantisch gelesene Menschen nicht einfacher macht. Wir erleben die Protagonistin im Überlebensmodus, in dem es freundlich zu lächeln gilt und in dem sie es sich zur Strategie gemacht hat, sich ihr Türkisch-Sein nicht anmerken zu lassen: „Wie der Name meiner Großmutter war mein öffentlicher Name ein Passwort geworden; ein Passwort, das mir Türen aufschloss und es mir ersparte, als „Freundin aus dem Ausland“ bezeichnet zu werden, das und alles andere, was darunter als Dunkelziffer verborgen lag, die vielen Angriffe, die mich hätten treffen können, wenn meine Mutter meinen geheimen Namen nicht nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen hätte.“ Welche Folgen das für die Identitätsbildung einer Heranwachsenden hat, wird in Streulicht schmerzlich aufgezeigt: „Ein Verrat an mir selbst“, „das Abspalten eines Teils von mir“, so drückt Deniz Ohde es aus.
Die Worte der Anderen
Die kindliche Unbedarftheit in einem kaputten System, die Suche nach Orientierung und die Entwicklung einer jungen Frau, die Fehler in ihrem Selbst zu suchen – all das beim Lesen mit anzusehen, mit zu fühlen, trifft schwer ins Herz. Die kühle, markante Sprache Ohdes nimmt uns mit in das klamme Unwohlsein einer „Außenstehenden“, der permanent suggeriert wird, das etwas mit ihr nicht stimmen würde: „In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen.“
„Ich lebte in einem anderen Zeichensystem“, schreibt Deniz Ohde – und legt dieses Zeichensystem vor den Leser*innen aus. Wir tapsen mit der Protagonistin umher, spüren ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit und ihren Kampf, spüren, was sie immer wieder einholt: „‚Erfahrungen sammeln‘ waren Worte der anderen, die auf ein dahinterliegende metaphysisches System verwiesen, das ich nicht verstand. Wenn ich versuchte, es mir anzueignen, wirkte es albern, wie mit zu großen Schuhe stakste ich in ihrer Begriffssuppe umher.“
Die Autorin nimmt uns mit, durch eine Bildungsbiografie, die letztlich an der Uni endet, raus aus dem Ort, an dem sie im Roman nur für eine Rekapitulation, für den Versuch des Verstehens zurückkehrt. Und doch ist es alles andere als eine tröstende Aufsteigerinnengeschichte. Vielmehr bleiben wir mit der Protagonistin zurück im Gefühl der Entfremdung, in ihrer Grammatik, vernarbt von der Härte des Systems.
Text und Bild: Marlene Resch