Wir schreiben das Jahr 2002. Weltmeisterschaft in Südkorea und Japan. Noch nie kam die türkische Nationalmannschaft so weit, wie bei dieser Weltmeisterschaft. Ich erinnere mich noch ganz genau. Ich war 12 Jahre alt und ging in die sechste Klasse. Mein Vater, mein Bruder und ich verfolgten wie besessen die Spiele der Türkei. Nach jedem gewonnenen Spiel ging es dann auf zum Autokorso in die Innenstadt Herfords. Das war ein neues Phänomen. Wild rumhupen, die türkische Fahne schwenken, das Gesicht mit roter Farbe plus Mond und Stern anmalen und sich einfach so richtig gemeinsam freuen. Schließlich gab es solche Erfolge nicht alle Tage. Beim Zelebrieren traf ich zufällig den anderen Türken meiner Stufe – diese waren sehr rar bei uns. Obwohl wir uns eigentlich kaum kannten, umarmten wir uns und sprangen in die Lüfte. Wow – So sehr kann Fußball also verbinden.
Die Türkei kam damals bis ins Halbfinale. Dann das Aus gegen Brasilien. Aber egal. Trotzdem ein Grund für mich, mit dem türkischen Nationaltrikot am nächsten Tag in die Schule zu gehen. Huch, war es etwa das erste Mal, dass die Türkei – wenn auch keinen Pokal gewonnen – so richtig etwas geschafft hatte? Ich meine, so richtig mit Ansehen und so. Schließlich ist Fußball der wichtigste Nationalsport in Deutschland UND in der Türkei. Das erste Mal – im Alter von 12 Jahren – hatte ich das Gefühl auf meine türkischen Roots stolz sein zu können. Oder zu dürfen?
Die nächste Episode ging mit der Europameisterschaft 2008 weiter und dieses Mal war es krasser denn je. Nicht nur, dass die Spieler der Türkei den Spannungsbogen immer unheimlich in die Höhe und Länge zogen, sondern vor allem: Die türkische Nationalelf traf auf die deutsche Nationalelf. Das wird Stress geben, dachten sich viele. Das Tor in letzter Minute von Lahm war hart, aber Stress gab es trotzdem nicht. Ok, die türkische Fahne an unserem Auto wurde abgerissen. Die deutsche nicht. Aber das ist ein anderes Thema. Was am Ende rauskam, war eine Art deutsch-türkische Fußballfreude und –freundschaft.
Trotz Aufwachsens mit Fußball, inklusive einer Kindheit des akribischen Verfolgens der Fußballspiele des Türkischen Verein Herfords, in dem sowohl Papa und mein Onkel jeden Sonntag ihrer Leidenschaft nachgingen und mein Opa mit Kommentaren wie „Şiiii-rii, gibs doch niiicht Men-şşş.“ stets präsent war, kam irgendwann mein Interessensbruch mit Fußball. Nach unzähligen Auseinandersetzungen von Theorien über Nationen und Nationalismus in den Universitätsjahren, war ich mir nicht mehr sicher, was ich von dem ganzen Zeug halten soll. Ist Fußball etwa auch eine Art und Auslebung des Nationalismus? Warum schreit eine ganze Masse, dass ihr Land, welches gerade durch elf Personen auf dem Fußballfeld repräsentiert wird, das beste und größte ist? Hobby oder Ideologie? Und mal ganz abgesehen: Mit Hintergrund der gesellschaftlichen Geschehnisse in der Türkei, konnte ich mich doch nicht weiterhin für die türkische Nationalmannschaft freuen. Oder ist das alles viel zu weit hergeholt?
Heute stelle ich fest: Nicht alle Sphären des Lebens müssen politisiert werden. Auch wenn mein Interesse für Fußball nicht nochmal in selbiger Form wiedergekehrt ist und meine Fußballfieber-Erlebnisse lange zurückliegen, können wir Fußballspiele doch als Anlass sehen, bei dem Menschen zusammenkommen und neue Verbindungen entstehen. Das kann im Stadion oder Fußballclub sein oder einfach zu Hause vor dem Fernseher mit Familie und Freunden, Knabberzeug und Bier.
Angekommen im Jahr 2016, Europameisterschaft: Das erste Mal, dass ich eine Meisterschaft in der Türkei verfolge. Ob Deutschland und die Türkei wohl dieses Mal wieder aufeinandertreffen und die Leidenschaft für den Fußball gemeinsam feiern? Im Sinne der deutsch-türkischen Fußball-Freundschaft wäre dies doch der wünschenswerteste Ausgang der EM 2016.
Text: Tuğba Yalçınkaya
Redaktion: Rebecca Meier
Titelbild: Osman Dinçdemir