Denkt man an Moscheen in Istanbul, so hat man die klassischen Prachtbauten vor Augen. Gebäude nach osmanischer Tradition, mit Minaretten und Kuppel, die Sultanahmet Camii oder die Süleymaniye Camii. Aktuell wird eine weitere Moschee in diesem Stil gebaut: die Çamlıca Moschee auf einem Hügel in Üsküdar, mit der sich Staatspräsident Erdoğan einen Traum erfüllt. Gleichzeitig ist in der heutigen Türkei aber auch ein gegensätzlicher Trend zu beobachten: Moderne Architektur findet einen Platz in der islamischen Gesellschaft. Zwar am Stadtrand, aber immerhin: Es gibt sie. Nicht nur die Architektur selbst hat sich in den letzten zehn Jahren verändert — sie hat auch mit Tabus gebrochen. So war 2009 erstmals eine Frau verantwortlich für die Innenausstattung einer Moschee und im Jahr 2012 wurde ein Gotteshaus gänzlich von einer weiblichen Architektin errichtet. Wir haben drei bestaunenswerte avantgardistische Bauwerke in und um Istanbul für euch besucht.
Mit goldener Verspieltheit zur spirituellen Ruhe: die Şakirin Moschee
Die Şakirin Moschee wurde 2009 im selben Stadtteil errichtet, in dem die Çamlıca Moschee errichtet wird. Auch wenn viele Grundelemente wie Minarette und Kuppel noch an den osmanischen Stil erinnern, weist sie dennoch einige Besonderheiten und Neuerungen auf. Der Gebetsraum der Moschee verzichtet auf Wände. So scheint es zumindest, da die Stützen der Kuppel an vier Ecken direkt in den Boden laufen und drei Seiten lediglich mit Glas verschlossen werden. Vor den gläsernen Wänden sind ornamentreiche Metallkonstruktionen angebracht. Das Novum bei diesem Bau ist, dass erstmals eine Frau, nämlich Zeynep Fadıllıoğlu, die Innenarchitektur übernahm. In enger Abstimmung mit islamischen Theologen und Kalligrafen entwarf sie nicht nur die Deckenmalereien, sondern auch die Gebetsnische und die Kanzel für die Predigt.
Das Ergebnis ist ein immer noch prunkvoller Gebetsraum mit vielen goldenen Elementen und einem Hauch von Verspieltheit. Dennoch verliert die Şakirin Moschee an jenem imposanten Machtausdruck, der den osmanischen Moscheen inne liegt. Vielmehr wird eine sanfte Spiritualität, eine beruhigende Wirkung beim Besucher erzielt. Im Arkadenhof hingegen sorgen nur wenige Details für eine Unterbrechung der schlichten grauen Steine. Ins Auge springt hier die glitzernde Metallkugel in der Hofmitte, welche als Brunnen das Universum symbolisieren soll.
In einem Interview erzählte Fadıllıoğlu, dass ihr der gemeinsame Eintritt von Männern und Frauen durch das Hauptportal ein besonderes Anliegen gewesen sei. Doch mittlerweile befinden sich bei der Moschee Hinweistafeln, die weiblichen Gläubigen den Weg zum Seiteneingang schildern. Immerhin bietet die Tribüne für Frauen einen sehr guten Ausblick auf die Schönheit der Şakirin Moschee.
Mystisches Schwarz, schlichte Eleganz — und Gold für Frauen: die Deva Ulu Moschee
Erstmals gänzlich von einer Architektin konzipiert, nämlich von Nermin Özkök, wurde die Deva Ulu Moschee. Streng genommen befindet sie sich nicht mehr in Istanbul, sondern im Stadtteil Şekerpınar von Kocaeli, östlich der Megametropole. Eingeweiht wurde der deutlich schlichtere Bau im Jahr 2012. Zu den äußerlichen Besonderheiten zählen ein verkürztes Minarett sowie die fehlende Kuppel. Während in der osmanischen Architektur runden Elementen der Vorzug gegeben wird, steht hier das Eck im Mittelpunkt. Dies gilt nicht nur für den Vorplatz und das Gebäude selbst, sondern auch für das Design des Gebetsraumes und dessen Interieur.
Gebetsnische, Kanzel und Rednerpult sind rechteckig und in absoluter Schlichtheit entworfen. Schwarzer Granit wechselt sich mit einer weißen Verkleidung ab. Dekoration fehlt fast gänzlich. Einzige Ausnahme bildet eine Kalligrafie des Wortes Allah. Auch der übrige Teil des Gebetsraumes kommt nur mit wenigen dekorativen Elementen aus. Schwarz und Grau sowie einige Kalligrafien dominieren den Raum. Lediglich die immer gleichen grünen Ornamente auf den quadratischen Fenstern bieten einen Klecks Farbe. Wenn nachts das Tageslicht wegfällt, sorgt eine giftgrüne Beleuchtung in der Kombination mit dem schwarzen Granit für eine mystische Aura.
Während die Şakirin Moschee viele goldfarbene Elemente aufweist, lässt sich Gold hier nur an einer Stelle finden. Hinter dem Hauptportal führen rechts und links je eine Tür zu sehr kleinen, exakt gleich großen Zwillingsräumen. Diese sind ebenfalls für das Gebet bestimmt. Doch während der Gebetsraum für die Männer eine silberne Gebetsnische enthält, ist er für die Frauen golden. Die Deva Ulu Moschee hat auch keine Nebeneingänge, sodass Frauen zum selben Eingang hereinkommen wie die Männer.
So interessant und schön die Deva Ulu Moschee in den Augen eines Architekturbegeisterten erscheinen mag, so zögerlich wurde sie von den örtlichen Gläubigen bisher angenommen. Zu den prominenten Kritikern gehört Mehmet Görmez, der Leiter des “Präsidium für Religionsangelegenheiten” (Diyanet). Es scheint, dass einige lieber an osmanischer Pracht festhalten möchten.
Back to the Roots: die Sancaklar Moschee
Von der klassischen osmanischen Architektur am weitesten entfernt ist sicherlich die Sancaklar Moschee von Emre Arolat in Büyükçekmece. Am sehr dünn besiedelten Istanbuler Stadtrand, 40 Kilometer westlich des Zentrums, hat er die Moschee in einen Hügel gebaut. Fertiggestellt wurde sie 2013. Vom Parkplatz muss man zunächst über die Moschee laufen und sieht dabei lediglich Minarett und einige Mauern aus Naturstein. Zu Beginn fühlt man sich eher in einem Garten als in einer Moschee. Auch wenn man die Stufen auf der anderen Seite des Hügels hinabgestiegen ist, erinnern die scheinbar zweckfreien Mauern mehr an eine mittelalterliche Ruine und der künstliche Bachlauf mehr an ein Dorf in den Bergen als an einen Sakralbau. Die Natur und das Wilde darin spielen zweifelsohne eine entscheidende Rolle in Arolats Architektur. Während die osmanische Architektur zuweilen Pflanzen und Gärten in ihre Moscheen integrierte, installierte der Architekt nun die Moschee in die Natur selbst.
Das Innere sei von der Höhle inspiriert, in der Mohammed die Suren Allahs empfing, so Arolat. Dabei kam ein beeindruckend schlichter Gebetsraum heraus, der trotz des nackten Steins eine beruhigende Wärme ausstrahlt. Das religiös notwendige Interieur ist vollständig, doch fällt es schwer, dieses auf Anhieb als solches zu erkennen. Die in den Stein gefräste Gebetsnische mag noch offensichtlich sein, aber bei der daneben liegenden Kanzel vermutet man zunächst einen Gang zu einem weiteren Raum. Auch das Rednerpult in der Wand aus schwarzem Glas bleibt solange unsichtbar, bis sich ein Geistlicher hinein begibt.
Doch die Sancaklar Moschee hat nicht nur Bewunderer, im Gegenteil: Im Internet überschlagen sich die Warnungen, man solle doch nicht in die “Ungläubigen-Moschee” gehen. Ein zweifelhafter Einwurf, denn die Moschee hat von einer Bibliothek bis zu Waschgelegenheiten alles, was Gläubige benötigen. Auch theologisch gibt es keinen Widerspruch. Es scheint das auch aus anderen Religionen bekannte Problem von Traditionalisten und Konservativen zu sein, die nur schwer Zugang zur Moderne finden. Schwer zu verstehen, wenn man bedenkt, dass auch der osmanische Baustil einmal modern war.
Und nun?
Natürlich laden die alten architektonischen Meisterwerke wie die Süylemaniye Camii immer wieder zum Staunen ein und sind prägend für die Stadt und die Religion. Millionen von Menschen konnten sich bereits von den wunderschönen Moscheen überzeugen. Wie schön ist es dennoch, wenn zu den imposanten Bauwerken moderne Alternativen hinzukommen. Und vielleicht muss man für den Besuch moderner Moscheen irgendwann nicht mehr an den Stadtrand fahren.
Text und Bilder: Navid Linnemann