Kaum ein Ereignis wurde im Sommer 2018 in Deutschland so diskutiert wie der Rücktritt von Mesut Özil aus der Nationalmannschaft – auch in einem Gymnasium in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz. Unsere Autorin Melek ist dort Schülerin und erkennt nach den Sommerferien ihre eigene Ohnmacht.
Sozialkunde-Unterricht an einem Gymnasium in der Oberstufe, kurz nach den Sommerferien: der weiße, deutsche, ältere Lehrer fragt in die Klasse, was denn in der schulfreien Zeit so passiert sei in Deutschland. Niemand meldet sich. Schweigen. Ich schaue im unpassenden Moment hoch, werde rangenommen. Er lässt mich eigentlich in Ruhe, außer es geht um die Türkei. Ich denke mir, dass es um die neu entflammte Rassismusdebatte nach Mesut Özils Ausstieg aus der deutschen Nationalmannschaft geht, denn dann erscheint es mir sinnvoll, dass ich als Quelle der Auskunft dienen soll. Also sage ich genau das. Die restliche Stunde höre ich mir dann hauptsächlich an, was weiße Deutsche davon halten, dass Özil davon spricht, rassistisch angefeindet worden zu sein. Es ist irgendwo auch interessant, ich habe noch nie so direkt mitverfolgen können, dass nicht rassifizierte Menschen, die sich als tolerant und offen betrachten, Stellung zu diesem als böse stigmatisiertem Wort “Rassismus” beziehen. In erster Linie ist es für mich jedoch nur eins: ernüchternd, befremdend, kränkend.
Geld als Freifahrtschein in eine Welt der Utopie
Irgendwann, als es nicht mehr um Rassismus geht, sondern darum, ob ein gut verdienender Mensch – Özil ist ja immerhin Millionär – überhaupt das Recht habe, sich so “in den Mittelpunkt zu rücken”, unterbreche ich die Diskussion. Die meisten aus dem Kurs sind sowieso nur stumme Beobachter, man merkt ihnen ihr Unwohlsein an. Nur der Lehrer und ein Junge reden. Beide haben dieselbe Meinung: ihnen gestehe es zu, einem von Rassismus betroffenen seine Erfahrungen abzusprechen, weil sie selbst kein Problem mit türkeistämmigen Menschen haben; weil sie finden, jemand Vermögendes kann gar nicht von Rassismus betroffen sein, weil Özil “ja nichtmal schwarz” sei. Als wäre Geld der Freifahrtschein in eine Welt der Utopie.
Vom Rennen gegen Mauern
Ich melde mich. Mein Einwand ist sehr simpel, denke ich zumindest: Urteile nicht über etwas, was du selbst nicht erfahren hast. Denn nein, du hast keine Deutungshoheit über das Empfinden von Menschen, die aufgrund von internalisierten Rassismen, Vorurteilen und Stereotypen ihr Leben lang systematisch und institutionalisiert diskriminiert werden. Aber ich stoße auf taube Ohren, natürlich, ich bin ja selbst türkeistämmig und deswegen sowieso “nicht objektiv”. Das ist ihr Todschlagargument: nicht vorhandene Objektivität.
So fühle ich mich auch, wie erschlagen. Ich schweige. Habe gesagt, was ich sagen wollte. Eigentlich bin ich ja selbst Schuld. Ich hab das Fass selbst aufgerissen, ohne Rücksicht auf Verluste. Und jetzt ist der Verlust da, er befällt meinen ganzen Körper. Dieses Gefühl gegen eine Mauer zu rennen, die doch eigentlich nur ein Gedanke ist, eine Meinung. Mein Sozialkunde-Lehrer fängt trotzdem an sich zu rechtfertigen, schaut mich an: “Ich will niemandem was absprechen, aber das ist eben kein Rassismus. Ein so schwerer Vorwurf sollte nicht leichtfertig geäußert werden”, sagt er.
Die Emanzipation von den Erfahrungen
Ich nicke ihn an, habe nichts mehr zu sagen. Mein Schweigen ist keine Zustimmung, sondern ein Rückzug aus dieser Situation, die nur eine von vielen ist, in denen Distanzierung das Einzige ist, was mir bleibt, um zu zeigen, dass ich kein Opfer bin und mich auch zu keinem machen lasse. Bewusst entscheide ich mich gegen eine Diskussion, denn Rassismuserfahrungen sind nicht verhandelbar und finden auch nicht in Kategorien von vermeintlicher “Objektivität” und “Subjektivität” statt. Sie stellen eine Schnittmenge aus persönlichem und politischem Erlebnis dar und entsprechend sollten sie auch gehandhabt werden: wie etwas sehr Persönliches, das jeden etwas angeht.
Dabei gibt es keine universelle Reaktion auf erlebten Rassismus und das muss es auch nicht, da sich die Umgangsform von Person zu Person und auch Situation zu Situation unterscheidet. Doch letztlich bedeutet das Verbalisieren von Rassismuserfahrungen nicht, sich als Opfer zu etablieren, sondern ist der Versuch, sich von diesen Erfahrungen zu emanzipieren, zu zeigen: das habe ich erlebt und so stehe ich dazu.
#MeTwo und das Gefühl der Entfremdung
In den Tagen nach Özils Statement zu seinem Austritt aus der Deutschen Nationalmannschaft, geht der Hashtag “MeTwo” viral, der von dem Antirassismus-Aktivisten Ali Can ins Leben gerufen wurde. Der Hashtag soll von Rassismus betroffenen Menschen Raum geben, ihren Alltag, ihre Lebensrealität schildern zu können. In meinem Leben verändert sich nicht viel, aber innerlich erlebe ich einen Umbruch. Plötzlich gestehe ich mir zu, diesen politischen Raum zu besetzen – diesen politischen Raum für Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihres Namens rassistisch diskriminiert werden.
Natürlich war mir schon seit einigen Jahren klar, dass ich anders behandelt werde als weiße Deutsche, aber es war eben normal, Alltag. Es war Tatsache, dass ich als Deutschtürkin bemühter sein muss, freundlicher, konformer; spätestens wenn mein Name in der Welt war. Die Reaktionen auf mich; der skeptische Blick, das abschätzige Lächeln, die selbstsicher gestellten Fragen mit als selbstverständlich betrachteten Antworten, so als wäre ich ein willenloses Schauobjekt, waren Gewohnheit. Noch heute bin ich jedes Mal überrascht, wenn da keine Blicke sind, keine Fragen, sondern Gemeinsamkeiten statt Differenzen gesehen werden.
Zwischen den Welten
Meine Identität war für mich lange Zeit eine Kampfzone, ein Ort für Zuschreibungen anderer, etwas, das angeschaut und beurteilt wurde, was nicht mir gehörte. Es war normal für mich, aufgrund meines “nicht deutschen Aussehens” und meines Namens gefragt zu werden, woher ich komme. Und dass mein Gegenüber nach der “zufriedenstellenden” Antwort (“meine Familie stammt aus der Türkei”) natürlich gleich ganz tief aus der Stereotypen-Kiste auspacken musste. Es war normal für mich, gefragt zu werden, ob und wann ich wohl ein Kopftuch tragen würde. Es war auch normal für mich, meine Kindheit und frühe Jugend entfremdet von mir selbst und allen anderen durch die Straßen zu laufen, irgendwo zwischen Koranschule, Islam und Nietzsche.
Was bleibt?
Nach Özil war das alles eben nicht mehr normal, sondern etwas, wofür ich endlich ein Wort hatte: Rassismus. Ich bin immer noch vorsichtig, was diesen Raum angeht, lasse mich nicht ganz darauf ein, denn jede Rassismusgeschichte von Betroffenen unterscheidet sich. Ich weiß, dass ich es noch “relativ gut” habe, dass ich nie offen beschimpft und angefeindet wurde, sondern immer nur komisch angeschaut, subtil diffamiert wurde.
Ich höre also all diesen Menschen zu, all den Deutschtürk*innen hier in Deutschland, und auch allen anderen rassifizierten Menschen, lese Autor*innen, die über Rassismus in Deutschland schreiben, höre sowohl online als auch offline Geschichten von Dehumanisierung, von Diskriminierung und Angst. Von Wut und Trauer. Jetzt ist das die neue Normalität, ein Teil des Alltags.
Und dann passiert Chemnitz. Dann laufen Massen von Menschen durch die Straßen einer Stadt, in den Online-Medien lese ich von “Selbstjustiz”. Ich höre zu, ich sehe zu, bewundere antifaschistische Aktivist*innen, die selbst von Rassismus betroffen sind und bewundere all jene, die ihre Geschichte erzählen, die Geschichte ihrer Familie, trotz Ohnmacht.
Und doch fühlt es sich so an: Was bleibt, sind Hashtags in den sozialen Netzwerken und mein Sozialkunde-Lehrer, der als Teil einer liberalen Mitte keinen Rassismus sieht.
Text: Melek Halici
Illustration: Irem Kurt
Wir bei Maviblau stellen uns klar gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder wollen wir diese Themen ansprechen und Ungerechtigkeiten aufzeigen: Zuletzt hat zum Beispiel Tuğba von rassistischen Erfahrungen und deren Folgen erzählt.