Der 34. osmanische Sultan Abdülhamid II. ist heute immer noch eine umstrittene Persönlichkeit in der Türkei. Er ist für viele Dinge bekannt: Beispielsweise dafür, Revolten von Minderheiten im Osmanischen Reich zu unterdrücken und blutig niederzuschlagen (türk. Hamidiye Katliamlari, Hamidische Massaker), weshalb er auch „Roter Sultan“ (türk. Kizil Sultan) genannt wurde.Eine besonders außergewöhnliche Information über ihn, die weniger in das Bild des grausamen Sultans passt, ist jedoch seine Hingabe für Kriminalromane, insbesondere für die des wohl bekanntesten Kriminalromanautors Sir Arthur Conan Doyle.
Das Lesen als Leidenschaft
Abdülhamid regierte das Osmanische Reich in dessen letzter Periode im Zeitraum von 1876 bis 1909. Seine Freizeit außerhalb der Verwaltung mit seinen Hobbys: In seinem privaten Atelier beschäftigte er sich mit Holzarbeiten, Keramik und fertigte Töpferwaren her. Das bemerkenswerteste dieser Hobbys war zweifellos seine Liebe zu seiner Bibliothek mit Tausenden von Kriminalromanen. Denn er galt als leidenschaftlicher Romanleser. Seine Bibliothek verfügte über eine Sammlung von etwa 2.000 Kriminalromanen und diversen anderen Büchern.Trotz seines intensiven Arbeitsdrucks und der Verantwortung über ein großes Reich, welches sich vom Balkan über Kleinasien und die arabische Halbinsel bis nach Nordafrika erstreckte, hat er das Lesen nie vernachlässigt. Er erledigte die meisten staatlichen Angelegenheiten von seiner persönlichen Palast-Bibliothek aus. Hier verbrachte er die Zeit bis spät in die Nacht meist mit Lesen und ließ sich manchmal sogar von seinem Kammerherrn die Bücher vorlesen, wenn seine Augen ermüdeten. Er verfolgte die neuesten Veröffentlichungen, insbesondere Reiseartikel und Kriminalromane, seinerzeit in Europa und ließ sie im eigens dafür errichteten Übersetzungsbüro in seinem Palast übersetzen.
Krimibesessenheit
Die erste Begegnung Abdülhamids mit Sir Arthur Conan Doyle und seinem Romanhelden Sherlock Holmes war im Jahr 1903 und einem ziemlichen Zufall geschuldet. Abdülhamid interessierte sich für das, was die osmanische und europäische Presse über ihn berichtete. In diesem Zusammenhang befahl er den in den Botschaften tätigen osmanischen Beamten, diese Veröffentlichungen zu übersetzen und ihm darüber Bericht zu erstatten. Durch diese Übersetzungen gelang es ihm, alle veröffentlichten Artikel über ihn im Ausland zu erfassen. Und auch die Werke seiner Lieblingsautoren wurden von den osmanischen Botschaftern im Ausland direkt nach Istanbul geschickt und unverzüglich für den Sultan in dessen Übersetzungsbüro übersetzt. Während 1903 eines der Übersetzter ein Artikel über den Sultan in einer ausländischen Zeitschrift übersetzte, bemerkte er auf der vorherigen Seite die Geschichte von Arthur Conan Doyles “The Adventure of the Empty House” und wusste direkt, dass der krimiinteressierte Sultan Gefallen daran haben wird, übersetzte diese mit und legte sie ihm vor. Als der Sultan den Artikel las, gefiel ihm die Geschichte Doyles dermaßen, dass er dem Osmanischen Botschafter in London, dem griechischstämmigen Muzurus Pasha, befahl, alle bis dahin veröffentlichten Werke Doyles, nach Istanbul zu schicken. So begann er seine riesige Palastbibliothek mit dessen Werken allmählich zu füllen. Man geht davon aus, dass es im Yıldız-Palast 72 und im Osmanischen Archiv der Universität Istanbul 505 Sherlock Holmes-Übersetzungen gibt.
Orden für Sherlock
Doyle beschreibt in seinen Memoiren, dass er Abdülhamid während seiner wöchentlichen Freitagszeremonie im Monat Ramadan des Jahres 1907 zu Augen bekam, als er mit seiner zweiten Frau Jean Leckie ein Teil seiner Flitterwochen in Istanbul verbrachte. Jede Woche erschienen die osmanischen Sultane traditionell nach dem Freitagsgebet mit einer Zeremonie namens „Freitagsgruß“ (türkisch selamlık) vor die versammelten Menschenmengen, um ihnen die Gelegenheit zu geben, ihren Sultan zu sehen und ihnen ihre Macht zu demonstrieren. Als Abdülhamid erfuhr, dass der Schöpfer seiner Lieblingskrimifigur Sherlock Holmes in Istanbul war, sandte er ihm persönlich eine Nachricht.
„Es war Ramadan, und der alte Sultan sandte mir eine Nachricht, dass er meine Bücher gelesen hatte und dass er mich gerne gesehen hätte, wenn es nicht der heilige Monat gewesen wäre. Er unterrichtete mich durch seinen Kammerherrn und überreichte mir den Orden der Medjidie, und (…) übergab meiner Frau den Orden der Chevekat“, beschreibt Doyle diesen Moment in seiner Autobiographie Memories and Adventures.
Der Medjidie-Orden (Mecidiye Nişanı) galt als eines der höchsten osmanischen Auszeichnungen für militärische oder zivile Verdienste für das Osmanische Reich und wurde neben Arthur Conan Doyle auch anderen weltbekannten Persönlichkeiten wie Robert Koch oder Louis Pasteur verliehen. Der Chevekat-Orden (Nişan-ı Şefkat) hingegen war ein Orden für Wohltätigkeit und Verdienste im Krieg oder großen Katastrophen und wurde nur Frauen, verliehen.
Literatur als Ausweg?
Einige neigen dazu, Sultan Abdülhamids Liebe zu Krimis seiner skeptischen Persönlichkeit zuzuschreiben, da er gegenüber allem, was um ihn herum vorging, sehr misstrauisch gewesen war. Insbesondere aufgrund der Ereignisse, die zu seiner Thronbesteigung 1876 führten- einen Putsch und den Tod seines Onkels Abdülaziz unter verdächtigen Umständen sowie der Nervenzusammenbruch dessen eigentlichen Nachfolgers Murat V. – , hat er die Verfassung außer Kraft gesetzt und im Laufe seiner Regierungszeit ein Spionage- und Zensurnetzwerk und einen gut organisierten Geheimdienst installiert. Dadurch gelang es ihm Informationen aus allen Teilen des Reiches zu sammeln, um seine autoritäre Machtstellung mit allen Mitteln zu behaupten. Dies war einigen Aussagen zufolge aufgrund seines großen Interesses an Spionage- und Kriminalromanen zurückzuführen. Für einige andere war das Lesen lediglich ein Ausweg aus der hohen Arbeitsbelastung, den komplexen staatlichen Angelegenheiten und aus seinem alltäglichen Palastleben.
Text: Aykut Kaya
Fotos: Wiki Commons