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Reden ist Silber, Aufschreien ist Gold

Die Bücher „Desintegriert euch“ und „Kara Günlük“

Das Leben fordert von uns Mut. Mut, Dinge auszusprechen, für uns und für andere. Mut, zu hinterfragen und zu kritisieren, was in die Mehrheitsgesellschaft bereits als allgemeiner Konsens eingezogen ist. Vor allem, da ich selbst Teil der Mehrheitsgesellschaft bin. Der Begriff Mehrheitsgesellschaft bezeichnet den Teil einer Gesellschaft, der wegen seines Anteils an der Gesamtbevölkerung kulturelle und soziale Normen bestimmt. Das führt schon zu meiner ersten Frage: Wer oder was berechtigt mich, von irgendjemandem zu verlangen, sich an meine kulturellen und sozialen Normen anzupassen? Als ich auf Max Czolleks kürzlich veröffentlichte Streitschrift „Desintegriert euch!“ aufmerksam wurde, erwartete ich ein Buch, das sich gegen den Druck der Mehrheitsgesellschaft auflehnt. Ich wurde nicht enttäuscht, musste nur jede Menge Kritik aushalten und Selbstkritik üben.

Häufig offenbart sich der erste Zweifel an unserer persönlichen Wahrheit durch einen kleinen, fiesen, stechenden Schmerz mitten im Ego. Erleben wir Kritik an unserer Nationalität und unserer Herkunft, können wir uns sehr verletzt fühlen. Zumindest ging es mir so, als ich in „Desintegriert euch!“ nochmal sehr ausführlich vor Augen geführt bekommen habe, wie groß das Problem mit Rechtspopulisten in Deutschland tatsächlich ist und sich in einem strukturellem Rassismus niederschlägt.

Identifikation als Deutsche

Zur Stützung seiner These wirft Czollek zunächst einen Blick in die Geschichte. Die Stelle, an der er schreibt, dass die Sympathie mit den Nationalsozialisten über die Identifikation als Deutsche immer noch groß genug dafür war, dass es in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus oft eher darum ging, Täter zu entschuldigen und nicht zu verurteilen (Stichwort: Auschwitzprozesse). Czollek beweist sehr eindringlich, dass durch die Identifikation als Deutsche selbst im Falle von Straftaten noch noch heute  zwischen deutschen und nicht-deutschen Tätern differenziert wird. Bei einem Blick in die aktuelle Berichtserstattung bedarf dies wohl kaum einer weiteren Ausführung.

Czollek macht deutlich, dass in meinem Land (das Land, dass ich für liberal und demokratisch gehalten habe) auch von führenden Politiker*innen mehr Wert darauf gelegt wird, 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen als politische Frustration zu deuten und durch eine Distanzierung von  diversen Parteien gegenüber nationalistischen Aussagen diese Stimmen wieder zu gewinnen anstatt sich laut aufschreiend vor Minderheiten zu stellen. Die Stimmen, die zwischen deutschen und nicht-deutschen Täter*innen differenzieren, werden immer lauter und lauter. Auch wenn ich mich natürlich das ein oder andere Mal durch Czolleks Streitschrift als „Deutsche“ angegriffen gefühlt habe, musste ich am Ende einsehen, dass das Land, in dem ich zu Hause bin, noch viel kritikwürdiger ist, als ich dachte. Sehr, sehr viel mehr.

Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft

Vor allem die Mehrheit einer Gesellschaft hat die Verantwortung, ja, die Verpflichtung, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen, denn von ihr geht nun mal die größte Macht und somit größte Bedrohung aus. Von niemandem sonst, egal wie vehement versucht wird, Migrant*innen die Verantwortung für kriminelle Machenschaften zuzuschieben.

Max Czolleks Streitschrift fordert uns Bürger*innen heraus, uns zwischen zwei wesentlichen Standpunkten zu entscheiden. Dem der deutschen Leitkultur und dem derer, die das Zusammenleben radikaler Vielfalt verteidigen. „Die einen wollen einen Raum schaffen, in dem man ohne Angst verschieden sein kann. Die anderen wollen kulturelle Maßstäbe für die Zugehörigkeit zu Deutschland aufstellen, womit sie notwendig jene ausschließen, die nicht in ihr Konzept der Leitkultur passen.“

Vor allem mit der Gründung eines sogenannten „Heimatsministeriums“ sei uns die Verantwortung auferlegt worden, laut aufzuschreien. Ganz, ganz laut aufzuschreien.

Entgegen der Leitkultur

Dank Czollek bin ich auch erneut auf eine Bewegung aufmerksam geworden, die mir während meines sprachwissenschaftlichen Studiums schonmal begegnet ist: Kanak attack, in der Sprachwissenschaft bekannt als Kanak sprak. Kanak sprak geht vor allem auf einen Sprachgebrauch unter Jugendlichen zurück, der durch Multilingualität und Multiethnezität, insbesondere auch durch den Einfluss der türkischen Sprache, entstanden ist.

Charakteristisch für die Kanak sprak ist das Weglassen von Artikeln und Präpositionen. Die Bewegung kanak attack ist mehr als eine Form der Jugendsprache. Sie ist zugleich eine Verweigerung gegenüber dem Versuch, sich eine Leitkultur aufzwingen zu lassen, und will darauf aufmerksam machen, dass die „Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen“ hinterfragt  werden muss.

Das größte Problem ist aber schließlich, dass heute die Mehrheitsgesellschaft darüber entscheidet, was „kanakisch“ ist. Czollek verweist in seiner Streitschrift auf Mutlu Ergüns „Kara Günlük: Das geheime Tagebuch des Sesperado“, in der sich der Autor als „ehrwürdiger Verzeichner der prärevolutionären Zeit, der Tage vor der Befreiung der N.O.C., der Nation of Color“ vorstellt und auf die Frage „Woher kommst du?“ am liebsten mit „Aus Mama“ antwortet. PoC sind die People of Color, die auf gegenseitige Diskriminierung unbedingt verzichten und Unterschiede anerkennen und respektieren müssten. Ich möchte dieses Werk jedem ans Herz legen. Nicht nur weil es fantastisch lustig ist, sondern  weil die Figur Sesperado genau das macht, was unsere Gesellschaft braucht: aufklären und offen kritisieren. Aufklären über einen strukturellen Rassismus, in dem die weißen Machthaber regieren. Offen kritisieren, wie als Sesperado mit seinem Cousin Mecnun Veranstaltungen in der Universität stört, indem er Granatäpfel schmeißt und Sätze wie „Kämpfen gegen das weiße, hegemoniale Unterdrückungssystem“ und „All Power to the people“ dazwischen ruft. Herrliche Szene!

Selbstkritik als der Schlüssel zu einer diskursiven demokratischen Welt?

Es geht in „Kara Günlük“ aber in erster Linie nicht nur um reine Schuldzuweisungen, sondern darum (wenn man sich nicht von den provokanten Witzen verleiten lässt, das wichtigste zu überlesen), dass Selbstkritik von elementarer Bedeitung ist. Deutlich wird das, als Songül sagt, dass „du eigentlich gar nicht antirassistisch sein kann, sondern nur versuchen kannst, dir bewusst zu machen, dass du auch rassistisch bist, um dein Verhalten zu verändern.“ Ja, da ist sie wieder: die beißende Selbstkritik. Wenn wir es zulassen, dann können wir ihr begegnen und transzendiert aus ihr hervorgehen. Transzendiert im Sinne einer Bereitschaft, mich in der Rolle einer priviligierten Weißen zu verstehen und als solche zu hinterfragen.

Kunst und Kultur können uns bei diesen transzendialen Erfahrungen helfen. Vor allem Kunst und Kultur haben das Potenzial Haltungen und Ansichten im besonderen Maße zu hinterfragen, durch Lyrik, Musik, Theater. Deswegen gerät sie auch als erstes unter den Druck repressiver Machthaber, so Czollek. Leider wird die Idee eines vielfältigen kulturellen harmonischen Zusammenlebens häufig als Utopie deklariert. Aber wer sagt uns denn bitte, dass die Vorstellung von einem einheitlich ethnischen und kulturellem Zusammenleben nicht das eigentliche Phantasma ist? Die Geschichte ist seit der Existenz unserer Gattung „Mensch“ geprägt von Völkerwanderung, Migrationgeschichte und muliethnischem Zusammenleben. Wie kann der Glaube an ein Fortbestand dieser eine utopische Vorstellung sein? Diese Frage lässt Czollek für die LeserInnen offen.

Ich bin dank der beiden Lektüren erneut darauf aufmerksam geworden, wie schmal der Grad zwischen Liebe für Vielfalt und Stigmatisierung, zwischen Offenheit für Diversität und Ab- und somit Ausgrenzung durch Identifikation mit vorgegeben Leitkulturen, die mit unseren persönlichen Sicht- und Lebensweisen häufig nichts zu tun haben, ist. Keine Kultur, keine Religion und keine Herkunft kann und darf über das entscheiden, wer ich bin und was ich liebe. Das halten mache für selbstverständlich, in der Realität gilt das nie für alle.

Ich darf mich an allem kulturellen Reichtum bedienen, den die Welt zu bieten hat, ich darf mich mit Orten und Sprachen identifizieren, die nichts mit meiner familiären Herkunft zu tun haben. Ich darf auf diesem Planeten sein, was ich will und hingehen, wo ich will. Das alles, weil ich „Teil der Mehrheitsgesellschaft“ bin. Dafür trage ich auch die Verantwortung, mich politisch aktiv zu beteiligen und niemals zu schweigen, wenn es um die dominierende Vorherrschaft meiner eigenen weißen Kultur geht.

Text: Carina Plinke
Illustration: Seda Demiriz


Max Czollek, Desintegriert euch!, 2018, Carl Hanser, 208 S., 18 Euro
Mutlu Ergün: Kara Günlük, 2013, Unrast, 164 S., 9,99 Euro


In der Rubrik “Bücher, die Orhan Pamuk nicht geschrieben hat” rezensieren und empfehlen wir regelmäßig Bücher von türkischen Autor*innen: Zuletzt “Kinyas ve Kayra” von Hakan Günday oder “Die Haltlosen” von Oğuz Atay.

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Rough und gleichzeitig verletzlich