Ob große, pompöse Reiterstatuen, stolze Marmorbüsten oder abstrakte, undefinierbare Gebilde – an den meisten Denkmälern gehen wir einfach so vorbei, ohne ihnen große Beachtung zu schenken. Sie säumen oft täglich unsere Wege, doch mit der Zeit scheinen sie mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Aber Denkmäler befinden sich nicht in einem Stillstand, sondern sind den Prozessen und Wandlungen, die sich in einer Gesellschaft vollziehen, ausgesetzt und passen sich diesen an. Auf der einen Seite sind sie Träger von Erinnerung und weisen auf Vergangenes hin. Doch sie haben auch Auswirkungen auf die Gegenwart und konstruieren dadurch die Zukunft mit. Sie sind als Erinnerungsorte Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft. Sie spiegeln vergangene und gegenwärtige Politik und gesellschaftliche Machstrukturen wider und gestalten die Zukunft mit. Die normative Interpretation und die ästhetische Gestaltung sind Teil der öffentlichen Gedächtnispolitik. Und auch das Verschwinden eines Denkmals hat seine ganz eigene Bedeutung, wie ich herausgefunden habe.
An dieser Stelle sollte eigentlich ein Denkmal zu sehen sein. Genauer: Das Denkmal İşçi (Der Arbeiter) für die Menschen, die in den 60er und 70er Jahren als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland gegangen sind.
Moment. Ein Denkmal für türkische Gastarbeiter*innen in Istanbul? Das ist ja spannend, dachte ich mir, als ich davon hörte und beschloss, dieser Sache genauer auf den Grund zu gehen. Als ich mir das Denkmal jedoch anschauen wollte, war es nicht mehr an seiner ursprünglichen Stelle im Istanbuler Stadtteil Tophane. Auf der Suche nach dem İşçi bin ich dann auf einen spannenden Ort gestoßen.
Tophane ist ein alter Stadtteil Istanbuls, der sich zwischen dem hippen Karaköy und dem Szeneviertel Cihangir befindet. Heute leben dort zum einen überwiegend konservative Bürger*innen und zum anderen zunehmend Menschen der gebildeten Mittelschicht, die sich aufgrund von Gentrifizierungsprozessen in Tophane niedergelassen haben. Als ich vor dem leeren Stück grünem Rasen stehe, frage ich mich: Was hat Tophane eigentlich mit türkischen Gastarbeiter*innen zu tun?
Nachdem ich ein paar Nachforschungen angestellt hatte, konnte ich herausfinden, dass sich am Rande des Tophane Parks von 1961 bis 1970 die „Deutsche Verbindungsstelle“ befand. Dies war eine Behörde der BRD, die für die Prüfung der türkischen Gastarbeiter*innen zuständig war. Dort wurden Bewerber*innen nicht nur auf ihre berufliche Qualifikation, sondern auch auf ihren Gesundheitszustand hin „überprüft“. Das bedeutete oft, dass sie entwürdigende Untersuchungen über sich ergehen lassen mussten. Die deutschen Ärzt*innen ließen sie Sportübungen machen, man nahm ihnen Blut ab und die Zähne wurden durchgecheckt. Die Bewerber*innen mussten sich vor fremden Menschen nackt ausziehen. Bei Männern wurden oft die Genitalien kontrolliert. Nicht selten dauerten diese demütigenden Prozeduren mehrere Tage lang. Eine Operationsnarbe war oft schon Grund genug, eine*n Bewerber*in abzulehnen.
Um die Menschen zu ehren, die diese Prozeduren in Hoffnung auf ein besseres Leben auf sich nahmen, wurde der Künstler Muzaffer Ertoran 1973 beauftragt, genau an diesem Ort ein Denkmal zu errichten. Zu dem Zeitpunkt waren bereits etwa 865.000 Menschen als Gastarbeiter*innen nach Deutschland gegangen. Das aus Stein gemeißelte Denkmal bildete einen Mann mit einem Hammer in der Hand ab.
Der Arbeiter wurde allerdings, bereits kurz nachdem er aufgestellt worden war, nach und nach verstümmelt, weil seine Architektur sozialistischen Arbeiterdenkmälern ähnelte und dies in Topane vielen nicht gefiel. Zuerst wurden Finger abgehackt, dann der Hammer zerschlagen, danach die gesamten Arme. Das Gesicht wurde zunächst mit Teer überdeckt, bevor es schließlich völlig zerstört wurde. Muzaffer Ertoran restaurierte das Denkmal zunächst selbst, doch nachdem es immer wieder attackiert worden war und sich auch die Bewohner*innen von Tophane nicht am Erhalt des Denkmals interessiert zeigten, hörte er schließlich irgendwann auf. Von der Gemeinde oder Stadt ist es nie restauriert worden.
Erneut zum Leben erweckt wurde Der Arbeiter 2010 durch das Künstlerkollektiv “Hafriyat“. Um auf das Desinteresse aufmerksam zu machen, versuchte das Kollektiv, das Denkmal zu klauen. Der Trick funktionierte: die Bewohner*innen von Tophane verhinderten tatsächlich, dass das Denkmal entfernt wurde. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fand das Denkmal Beachtung und dem İşçi wurde wieder Leben eingehaucht. Doch die Stadtverwaltung störte sich nicht an der Entfernung selbst, sondern nur an der unerlaubten Vorgehensweise. Zu Beginn diesen Jahres beseitigte die Behörde das Denkmal schließlich vollständig.
Der İşçi wurde ohne viel Brimborium entfernt. Leise. Unbemerkt. Wie das Denkmal scheinen auch die Gastarbeiter*innen in der deutschen und türkischen Gesellschaft unsichtbar. Welche bedeutende Rolle diese Menschen für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft gespielt haben und immer noch spielen, ist kaum jemandem in Deutschland bewusst. Welche Strapazen sie dafür über sich ergehen lassen und welche Opfer sie dafür bringen mussten, genauso wenig. Heute scheint vor allem die Herkunft der Gastarbeiter*innen und ihrer Kinder und Kindeskinder eine Rolle zu spielen, weniger ihre Geschichten selbst. Dabei werden von der breiten Bevölkerung in Deutschland und der Türkei Identitätszuschreibungen getroffen, wie “die Türken”, “die Almancis”, die ihnen wortwörtlich eine Außen- oder Zwischenpostition in der Gesellschaft zuschreiben. Ist auch der zerstückelte Arbeiter ein Symbol für diese Nichtachtung und das Unverständnis für die Menschen und ihre Geschichten?
Ich schlendere durch den kleinen Parkabschnitt zum Gebäude, in dem sich vor 50 Jahren noch die „Deutsche Verbindungsstelle“ befand. Heute ist es zu einem Amtsgebäude der türkischen Anstalt für Arbeit umfunktioniert worden. Aus der Tür strömen gerade ein Dutzend junge Menschen, die ausgelassen miteinander quatschen. Ob sie sich darüber im Klaren sind, was sich früher in diesen Räumlichkeiten befand?
Bedeutung ist abhängig von Raum und Zeit, wird durch die betrachtende Person zugeschrieben. So wird ein Denkmal für Gastarbeiter*innen schnell zum Sinnbild des Kommunismus, Räumlichkeiten, in denen über das Schicksal von hunderttausenden Menschen entschieden worden ist, zu einem unscheinbaren Verwaltungsgebäude und ein Parkabschnitt, der vergangenes Jahr noch an Menschen erinnerte, ist heute nur noch eine kleine, grüne Rasenfläche, auf der sich Passant*innen in den Schatten vor der Istanbuler Sommer-Sonne flüchten. Erinnern heißt auch immer, die Zukunft mitzugestalten. Der Arbeiter wurde entfernt. An die mutigen Menschen, die vor einem halben Jahrhundert ihre Heimat verließen und zu einem Teil der deutschen Gesellschaft wurden, möchte ich hiermit erinnern.
Text: Olan Scott Pinto