– Nidâ Tonyalı
geschrieben für eine Veranstaltung in München (OEZ erinnern) geschrieben
einschneidende erlebnisse,
das haben alle von uns
manche zu nichte,
manche zu gunst.
manche in sichte,
manche verlust.
jetzt verstehe ich, warum baba immer so viel angst um uns hatte.
kennst du die ramsaystraße?
meine tante wohnt dort,
ziemlich lang, nach augenmaße
kein allzu entfernter ort
auf der straße ist eine grundschule,
viel grün, nicht so viele parkmöglichkeiten,
der asphalt ist ziemlich kaputt, viele kuhlen
aber die lassen sich überschreiten.
ramsaystraße 63450 hanau,
ein schöner ort zum leben.
vor dem 19.02.2020.
luftlinie vielleicht 500, 600, nicht mehr als 700 meter.
und auf einmal wirkt die ramsaystraße nicht mehr ganz so harmonisch wie damals.
ich bekam einen anruf von meinem kleinen cousin
ich freute mich, er sollte sich mal öfter melden.
vor jahren fragte er mich, ob er mich nur noch nidâ nennen könnte, denn um seine abla zu sein, sei unser altersunterschied nicht groß genug.
ich ging ran,
und die welt blieb stehen.
nidâ — sagte er — ich muss nach hause gehen.
wo bist du? fragte ich, die aufgebrachtheit in seiner stimme kaum zu überhören.
jetzt verstehe ich, warum teyze immer so viel angst um uns hatte.
eine antwort auf meine frage bekam ich nicht,
und die sorgen zeigten kein ende in sicht.
aus freude wurde panik, mein kopf machte dicht,
lebensgefahr: ende vom lied, kein licht.
ich war bei mccs mit meinen freunden,
und schüsse sind gefallen.
ob es einer der kinder war,
das weiß ich bis heute nicht.
im moment war uns nicht klar,
wie echt die situation war.
jetzt verstehe ich, warum anne immer so viel angst um uns hatte.
heute, hier, fast auf den tag 22 monate her
und noch immer
keine gerechtigkeit,
keine antworten,
keine justiz.
kinder wurden aufgeschnitten,
ohne den eltern vorher zu berichten,
für euch, eine leiche,
für uns, ein stück leben.
opfer, dessen familien bedroht werden,
doch der vater des täters bleibt weiter auf seinem thron.
ein notruf,
der nicht ein, nicht zwei, mehr als drei mal
getätigt wird,
und eine unterbesetzte station,
dessen polizist:innen blut
an den händen kleben haben.
ein notausgang,
der aufgrund einer angekündigten razzia
um an einsatzkräften zu sparen,
lieber leben zu riskieren,
abgeschlossen wird
und niemand kann entkommen.
ein staat,
der obwohl ein manifesto zugeschickt wurde,
nur sagen kann, dass unter tausend von angekündigten attentaten nicht alle ernst genommen werden können,
denn terrorismus ist nicht weiß.
nicht weiß, nicht christlich,
sondern muslimisch, radikal.
nicht westlich, nicht deutsch,
sondern östlich.
nicht hanau, nicht halle, nicht münchen,
sondern ganz weit weg.