Wer kennt sie nicht, die Kinderbuchfigur des Sams? Diesen rothaarigen, blaubepunkteten Kerl mit der Schweinenase. Und für die Türkischsprachigen, die diesen Artikel gerade lesen: Wer kennt nicht den weißbärtigen, unberechenbaren Greis Nasreddin Hoca aus der türkischen Stadt Konya? In ihrer Erscheinung sind sie grundverschieden, aber eines haben sie gemeinsam: den schelmischen Humor. Während das Sams Herrn Taschenbier das Leben schwer macht, verblüfft der alte Hoca die Nachbarschaft im Dorf jeden Tag mit einem neuen Streich.
Paul Maar, der Erfinder des Sams, erzählt die Geschichten des Nasreddin Hoca neu, und zwar in seinem Buch „Das Fliegende Kamel“. Damit tourt er durch Deutschland und liest daraus vor – aber nicht alleine, und nicht nur auf Deutsch. Zusammen mit dem Ensemble Capella Antiqua Bambergensis, dem Perkussionisten Murat Coşkun und seinen Kindern Yaschar und Malika sowie dem Musiker und Freiburger Stadtrat-Abgeordneten der Grünen İbrahim Sarıaltın gelingt dieser „Bühnengroßfamilie“ ein einzigartiger Kulturdialog auf drei Sprachen: deutsch, türkisch und musikalisch.
Das Projekt präsentierte das Globale Festival für grenzüberschreitende Literatur, das noch bis zum 13.11.17 in Bremen stattfindet, am vergangenen Sonntag seinem Publikum. Während der Proben im Theater im Kleinen Haus trafen wir Paul Maar und İbrahim Sarıaltın, zwei der drei Erzählstimmen des Ensembles, zu einem Gespräch.
Herr Maar, warum schreiben Sie so gern über Schelme und Witzbolde, und warum haben Sie ausgerechnet die Figur des Nasreddin Hoca für Ihr Buch ausgewählt?
Maar: Mich faszinieren Humor und Witz. Nasreddin Hoca besitzt eine Uneindeutigkeit, in der er sich gleichzeitig als Philosoph und Narr darstellt. Humor ist international verständlich: Er kommt, genauso, wie er in der Türkei ankommt, auch in Deutschland an.
Sarıaltın: Es ist sehr interessant zu sehen, an welchen Stellen das Publikum lacht: Wann Türken lachen, wann Deutsche lachen, aber auch, an welchen Stellen Kinder und wann Erwachsene lachen.
Maar: Und Humor ist zeitlos. Die Geschichte zum Beispiel, in der Nasreddin Hoca für einen Bettler mit dem Klang des Geldes bezahlt, ist so ähnlich auch von Till Eulenspiegel überliefert. Bei Nasreddin Hoca kommt aber natürlich kein Schweinebraten vor, sondern Lammfleisch. Und als ich ein wenig recherchiert habe, stellte ich fest, dass genau diese Geschichte auch in Japan erzählt wird. Anscheinend hat sie eine solche Kraft, dass sie auf der ganzen Welt weitererzählt wurde und damit gewandert ist, und immer wurde sie der jeweiligen Kultur ein bisschen angepasst.
Der Klang des Geldes
Nasreddin Hodscha kam an einer Gaststube vorbei,
wo der Wirt auf einem Rost vor dem Haus Lammfleisch grillte.
Gerade war der Wirt dabei, einen Bettler am Kragen
zu packen, ihn zu schütteln und auf ihn einzuschimpfen.
„Warum schimpfst du den armen Kerl?“ fragte Nasreddin den Wirt.
„Dieser Bettler hat ein Stück Brot so lange über meinen
Grill gehalten, bis es nach Lammfleisch roch, und hat es dann mit
Genuss gegessen“ schrie der Wirt. „Und jetzt will er nicht dafür bezahlen.“
„Stimmt das?“, fragte Nasreddin den Bettler.
„Ja. Aber ich habe das Fleisch nicht einmal berührt“,
verteidigte sich der Bettler, „ich wollte nur den Geruch einfangen.“
„Hast du Geld bei dir?“ fragte Nasreddin.
„Nur ein paar Münzen, die ich mir erbettelt habe.“, sagte der Mann.
„Dann gib sie her“, befahl Nasreddin.
Zögernd reichte ihm der Bettler die Münzen.
Nasreddin warf sie vor dem Wirt auf den Holztisch.
Aber bevor der Wirt danach greifen konnte,
hatte Nasreddin die Münzen schon wieder an sich genommen
und sie dem Bettler zurückgegeben.
„He, was soll das?“, fragte der Wirt, „Wieso nimmst du mir das Geld wieder weg?“
„Hast du den Klang der Münzen gehört?“ fragte Nasreddin.
„Natürlich habe ich ihn gehört“, sagte der Wirt, „ ich bin nicht taub.“
„Dieser Bettler hat dir den Geruch deines Essens mit dem Klang
seines Geldes bezahlt. Ihr seid quitt!“, sagte Nasreddin, ließ den verdutzten
Wirt stehen und ging mit dem Bettler davon.
Aus „Das fliegende Kamel“ von Paul Maar
Sie haben ja Nasreddin Hocas Geschichten nicht immer Eins zu Eins übernommen, was ist neu an Ihren Erzählungen?
Maar: Nun ja, es handelt sich um Geschichten aus dem 14. Jahrhundert, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Da habe ich mir das Recht genommen, die ein oder andere Pointe zu verstärken. In der Originalgeschichte über den Klang des Geldes, die ich kenne, ist es zum Beispiel der Hoca selbst, der das Brot über den Braten hält. Den Bettler habe ich dazuerfunden. Dadurch gebe ich Nasreddin Hoca eine zusätzliche Dimension als gutmütigen Weisen. Aber nicht alle Geschichten in dem Buch sind alt: Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Nasreddin Hoca heute in Köln, Frankfurt oder Bremen leben würde, und was für Geschichten dabei herauskommen würden.
Welches ist denn Ihre Lieblingsgeschichte?
Maar: Tja, ich denke, da ich sie schon so oft als Beispiel genommen habe, merkt man, dass es die Geschichte vom Klang des Geldes ist. Die finde ich absolut genial!
Sie haben den Orient ja schon öfters in Ihren Büchern aufgegriffen. Was fasziniert Sie so am Nahen Osten?
Maar: Diese Faszination begann schon mit den Lektüren aus meiner Kindheit. Ich habe früher sehr viel Karl May gelesen, wobei mich nicht die Geschichten aus dem Wilden Westen und die Erlebnisse des Old Shatterhand interessierten, sondern die Abenteuer des Kara Ben Nemsi im Orient. Außerdem die Geschichten aus 1001 Nacht. Und das Buch „Saids Schicksäle“ von Wilhelm Hauff habe ich als Kind bestimmt schon zehnmal gelesen.
Würde das Sams in Istanbul genauso viel Unfug machen oder würde sein Chaos im Chaos der Stadt untergehen?
Maar: Ich denke, auch dort würde das Sams viel Unruhe stiften. Nicht umsonst wurde das Buch auch ins Türkische übersetzt. Was mich allerdings mal interessieren würde ist, wie die Übersetzer es geschafft haben, die Wochentage ins Türkische zu übersetzen, sie spielen in der Originalfassung ja eine wichtige Rolle in der Geschichte!
Finden Sie, dass Literatur ein Schlüssel für mehr Kulturverständigung ist?
Maar: Dass das deutsch-türkische Verhältnis heute belastet ist, muss ich Ihnen ja nicht sagen. Aber es gibt eine Brücke zwischen uns, und das ist die Kunst. Genauso wie ich gern Bücher von Orhan Pamuk und anderen türkischen Schriftstellern lese, stelle ich mir vor, wie ein Kind in Adana oder Ankara gerade auf einem Sofa sitzt und meine Bücher liest. Und dort wo Worte aufhören, fängt die Musik an.
Sarıaltın: Diese Veranstaltung stellt nicht nur die Interkulturalität dar, sondern praktiziert genau das. Bei dem Thema „deutsch-türkische Beziehungen“ werden zurzeit überwiegend negative Seiten dargestellt. Wir haben so unglaublich viel in diese „Integration“ hineingesteckt – von beiden Seiten, von türkischer und deutscher. Jetzt fühlt es sich so an, als gehe diese ganze geleistete Arbeit wieder rückwärts. Dabei haben wir so viele Gemeinsamkeiten – im kulturellen, aber auch im politischen Bereich. Die Kunst ist dabei das, was uns verbindet.
Während der Lesung lausche ich gespannt abwechselnd der Erzählstimme Paul Maars und der von İbrahim Sarıaltın, der dieselbe Geschichte auf Türkisch erzählt. Ein bisschen fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, in der mir vor dem Schlafengehen immer erst meine Mutter auf der einen, dann mein Vater auf der anderen Sprache vorgelesen hat.
Bei der Geschichte über den Klang des Geldes muss ich schmunzeln. Genau wie İbrahim Sarıaltın vorhergesehen hat: Als Paul Maar erzählt, wie der Bettler sein Brot über den Braten hält, um den Geruch einzufangen, ertönt nur Kinderlachen aus dem Publikum. Die Erwachsenen lachen erst ganz am Ende, als die Geschichte aufgelöst wird.
Diese sowie andere bekannte und neue Geschichten des Nasreddin Hoca könnt ihr euch im Hörbuch „Das fliegende Kamel“ anhören. Gesprochen und gespielt auf zwei Sprachen
Text: Yasemin Bodur
Redaktion: Marlene Resch
Fotos: Benjamin Post