Balat. Ein vom Baudrang Istanbuls fast noch unberührtes Viertel. Fast. Ich treffe mich mit Charlotte Schmitz. Sie lebt dort seit drei Monaten. Charlotte studiert Fotografie in Hannover und hat sich nach Istanbul aufgemacht, um dort ein bisschen zu verweilen und auch, um Dinge mit ihrer Kamera wortwörtlich festzuhalten. Zum Beispiel Balats Straßen.
Balat liegt am goldenen Horn, hat damit ein wunderbares Stück Wasser in der Nähe, und ist per Bus nur ungefähr 10 Minuten vom Zentrum Istanbuls, vom Taksim entfernt. Ein perfekter Ort also für Immobilienanleger, die die Häuser wohlhabenden Istanbulern oder Ausländern anbieten können. Noch ist Balat von diesen aber fast unentdeckt. Noch wohnen dort einfache Familien, es gibt kleine Läden und Nachbarverbände, die einander helfen, über die Runden zu kommen. Doch das Viertel wird aufpoliert. In Charlottes Straße wird nun, sogar umsonst, allen Häuserwänden ein neuer Anstrich verpasst. Dabei strahlen nun die alten Häuser in sanften Gelb- und Rottönen. So, wie das auf Postkarten immer gut aussieht. Und so werden dann die ersten Häuser schon mit höheren Preisen vermietet und es ziehen nach und nach Fremde ins Viertel, die man nicht unbedingt am Leben in den Straßen teilnehmen sieht, die sich aber schon einmal ihr neues Heim mit Blick auf das Wasser einrichten.
Charlotte ist eine von ihnen. Doch das ist das Paradoxon, mit dem sie hier lebt. Das Alte festhalten wollen und doch irgendwie per Definition Teil des Neuen sein. “Sonst kann ich hier die Leute aber gar nicht so kennen lernen”, sagt sie mir. Und für ihre Fotografien braucht sie Nähe. Sie will das einfangen, was Balat jetzt noch ist. Und den Menschen eine Stimme geben, die in diesem Viertel leben. Ihr Leben dokumentieren, das es so vielleicht bald nicht mehr gibt. “Irgendwann werden diese Menschen wegen steigender Mieten ausziehen müssen. Daran zerbrechen die ganzen Nachbarschaften, die Beziehungen und Freundschaften, die man hat. Die Feste, die hier jetzt gefeiert werden, werden nicht mehr gefeiert werden können. Damit geht etwas von der Kultur und Identität der Menschen verloren, die hier in diesem Viertel verortet sind.”
Mit ihrer Kamera nähert sich Charlotte diesem Viertel, seiner Kultur und seinen Menschen. Sie kennt ihre Nachbarn, hält hier und dort ein Schwätzchen mit den Frauen und Mädchen. Man umarmt sich, küsst sich auf die Wangen. Dann kommen Fragen, wie: “Was macht dein Freund?”, “Kommst du heute Abend auch zu Simge, sie ist krank und wir wollen vorbeischauen.”, “Na, machst du schon wieder Fotos?” Mit Charlottes drei Monate altem Türkisch, das schon leicht den Dialekt der in Balat lebenden Frauen angenommen hat, können die wichtigen Dinge im leben, wie die Gesundheit und anstehende Feste, wie Hochzeiten, Beschneidungen und bevorstehende Geburten besprochen werden. Die Frauen, die Charlotte mir vorstellt, sind vor allem der Bevölkerungsgruppe der Roma zugehörig.
In einem Festtagsbekleidungsgeschäft, wenn man das so nennen kann, werden wir fröhlich begrüßt. Kostüme in den schrillsten Farben hängen an den Wänden. Die kann man sich für 150 Lira ausleihen und zum richtigen Anlass dann anziehen. Charlotte sucht nach Motiven. Sie nimmt sich Zeit, beobachtet und schaut erstmal. “Was viele nicht verstehen, ist, wie zeitaufwändig Fotografie ist. Manchmal braucht man Stunden, sogar Tage, um ein gutes Foto zu bekommen. Und man muss viel Zeit investieren, um überhaupt das Vertrauen der Leute zu gewinnen. Also, bei der Fotografie, die ich mache. Da gehört einfach ganz viel Nähe und Sicherheit auf beiden Seiten dazu. Um so ein Verhältnis aufzubauen, muss ich erst einmal etwas von mir geben. Ich rede mit den Leuten, wir sitzen über Stunden zusammen. Auf Hochzeiten mache ich Fotos für sie. Ich verbringe unglaublich viel Zeit nur mit der Zusendung von Bildern über Facebook. Aber dann, beim Zusammensein ergeben sich die Momente, das sind oft so Zwischenmomente, gar nichts Großes. Da kommen dann meine Bilder zustande.”
Eine alte Frau mit Kopftuch und knochigen Händen, die in das Geschäft gekommen ist, beäugt uns argwöhnisch. Sie setzt sich auf das Sofa neben die Standheizung und reibt ihre Hände, während sie vor sich hinmuffelt, was die Ausländerfotografin denn schon wieder da fotografiert. Charlotte geht zu ihr hin, hockt sich daneben und wärmt sich auf. Die Beiden sehen einander an. Dann beginnt Charlotte, die Standheizung zu fotografieren. “Da fotografiert die einen Heizkörper!”, muffelt die Frau. Ob die Leute hier viel von Charlottes Kunst verstehen, ist nicht so klar. Charlotte hält der Frau die Kamera hin, mit dem gemachten Foto auf dem Display. “Schau, Tantchen”, sagt sie in ihrem gebrochenen Türkisch. Die alte Frau lädt sie ein, sich neben sie zu setzen. Schweigend sitzen sie nun auf dem abgewetzten Sofa. Die alte Frau wippt vor sich hin. Charlotte lächelt zurück. Ein stilles, etwas schräges Aufeinanderzukommen.
Charlotte sagt, sie will Fotos machen, die nicht abbilden, sondern hinter denen man ganze Geschichten findet. Ich frage sie, warum sie vor allem Frauen fotografiert. “Das hat sich so ergeben, weil die Männer einfach zuhause kaum anwesend sind. Wenn ich eingeladen werde, treffe ich auf Frauen. Männer sind im Haus kaum präsent.” In ihren Fotos gibt es nur den Hauch einer Männeranwesenheit zu spüren. Die Hand eines Mannes beim Essen, denn zum Essen kommt er heim: Doch am Leben im Haus nimmt er nicht teil. “So, wie ich es hier in diesem Viertel, mit den Frauen, die ich kennen gelernt habe, erlebe, ist das Zuhause, das Private, das Reich der Frauen. Dort treffen sie sich, reden, leben miteinander. Nachbarinnen, Freundinnen. Bekannte. Männer müssen draußen präsent sein, in der Arbeitswelt, im Männercafé. Sie findet man in der öffentlichen Sphäre. Im Haus hat die Frau ihren Platz. Und der Mann hat da tagsüber auch wenig zu suchen.”
Wir verlassen das Geschäft und treffen auf eine Gruppe von jungen Frauen. Auch diese kennen Charlotte gut. “Wann kriege ich meine Fotos, Charlotte?”, “Hast du mich schon auf Facebook geaddet?”, “Wusstest du, Sinem ist schwanger!” “Weiß ich doch. Welcher Monat?”, fragt Charlotte. “Dritter.” Eine junge Frau in Jogginghose und rot gefärbten Haaren kommt vorbei und winkt der Gruppe zu. “Das ist die, die ich in dem Brautkleid fotografiert habe.”, erzählt mir Charlotte. Sie ist sechzehn und hat vor kurzem ihr Kind bekommen. Die Lebensinhalte und der Alltag von Charlottes Fotofrauen sind schon von einem ganz anderen Rhythmus geprägt, als der, den sie selbst lebt. “Gerade, weil ich Ausländern bin, akzeptieren sie micht mit meiner Andersartigkeit und lassen mich trotzdem an ihrer Welt teilhaben.” Wann sie und ihr Freund denn nun heiraten, wird sie trotzdem ständig gefragt. Vielleicht aber auch, weil das wieder ein toller Grund wäre, um ein weiteres Fest zu feiern.
Die kleinen Gassen Balats führen uns weiter zu einer Gegend, in der der Umbruch wieder deutlicher sichtbar ist. Dort gibt es immer mehr Antiquariate und kleine Restaurants zu finden. Auch ein Designergeschäft ist dort ansässig geworden. Wir bestellen Tee in einem gemütlichen Café. Dor sitzen junge Studentinnen mit ihren Apple-Computern. Der Besitzer begrüßt Charlotte auf französisch. In diese Gegend Balats kommen hippe Istanbuler, um auf das goldene Horn zu schauen. Und Touristen laufen durch die verwunschenen Straßen, machen Fotos und lassen sich von Touristenführern die jüdisch-griechische Vergangenheit des Viertels erzählen. Noch eine ander Zeit, eine andere Epoche Balats. Balat ist in Bewegung. Und in dieser Bewegung macht Charlotte eine Momentaufnahme von den Menschen. Warum sie fotografiert, frage ich sie. “Um das Jetzt mit all seinen Facetten festzuhalten. Um zu bewahren und Raum für diesen Augenblick zu schaffen.” Denn der ist in Echtzeit schon fast wieder vorüber.
Fotos von Charlottes Projekt über das Leben in Balat.
Mehr von Charlotte Schmitz gibt es zu sehen auf ihrer Webseite und auf Instagram.
Titelbild und Portraits von Umit Okan.