Am 5. September kommt “Ellbogen”, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Fatma Aydemir, in die Kinos. Der Film taucht ein in die Welt von Hazal, einer jungen Frau, deren Streben nach Selbstverwirklichung immer wieder von gesellschaftlichen Diskriminierungen, Projektionen und Ausgrenzung behindert wird. Als sie an ihrem 18. Geburtstag mit ihren Freundinnen vor einem Club abgewiesen und wenig später von einem Studenten belästigt wird, katalysiert sich ihre Wut in einer folgenschweren Tat. “Ellbogen” nimmt die Zuschauer:innen in Hazals Alltag voller Nadelstiche und Selbstbehauptung, in ihr komplexes Innenleben und auf ihre Flucht nach Istanbul.
Die Premiere des Films auf der Berlinale 2024 in der Kategorie Generation war ein besonderer Höhepunkt für die Berliner Regisseurin Aslı Özarslan. Nach ihren preisgekrönten Dokumentarfilmen „Insel 36“ und „Dil Leyla“ wagt sich Özarslan mit „Ellbogen“ an ihre erste Romanverfilmung und beweist auch hier ihr Können: Der Film wurde bereits im internationalen Wettbewerb für Erstlingsfilme beim 41. FrauenFilmFest Dortmund+Köln ausgezeichnet und gewann beim Lichter Filmfest Frankfurt den Preis für den besten regionalen Langfilm.
Mit großer Spannung sieht Aslı Özarslan nun den Reaktionen des Kinopublikums entgegen. Wir treffen die Regisseurin in einem Café in Kreuzkölln. Bei Rhabarberschorle und Cappuccino sprechen wir über die politischen Themen hinter Ellbogen, den Drive des Romans und die herausfordernde Suche nach der schauspielerischen Besetzung des Films.
Maviblau: Was hat dich daran gereizt, den Roman Ellbogen filmisch umzusetzen?
Aslı Özarslan: Ich habe den Roman innerhalb weniger Tage gelesen und er hat mich nicht losgelassen: Insbesondere deshalb, weil es hauptsächlich um Frauenfiguren geht und diese so ambivalent sind. Das hat gut zu dem gepasst, was ich auch bereits in meinen anderen beiden Filmen behandelt habe. Meine Figuren sind nie Heldinnen: Sie leisten Großes, aber trotzdem haben sie auch gleichzeitig sehr viele Fragen aufgeworfen. Das habe ich bei Hazal ähnlich empfunden. Ich hatte sehr viele Fragen und wollte versuchen, mich ihr anzunähern. Die größte Hürde dabei war diese innere Stimme von Hazal, dieses Rastlose in Bilder übersetzen. Ich glaube, am Ende haben wir es geschafft, den Drive des Romans zu übersetzen. Über Schnitt, über Musik und über das Schauspiel.
Was macht Hazals Perspektive deiner Meinung nach aus?
Hazal ist für viele eine Projektionsfläche und dabei fällt sie als Mensch total hinten rüber. Ich wollte dieses Menschliche, ihren Facettenreichtum, ihr junges Frauensein, all ihre Ecken und Kanten in den Vordergrund stellen. Und zeigen, dass die Gesellschaft ihr eigentlich gar keinen Raum dafür gibt, weil sie kein Vertrauen von Seiten der Gesellschaft bekommt. Und dann stellt sie sich die Frage: Wie kann sie einer Gesellschaft vertrauen, die ihr kein Vertrauen entgegenbringt?
Mit Melia Kara habt ihr Hazal mit einer Laiendarstellerin besetzt: Wieso habt ihr euch dafür entschieden?
Dieses roughe und gleichzeitig auch verletzliche von Hazal, das im Roman beschrieben wird, kann am besten mit einer Laiendarstellerin abgebildet werden. Auch wenn das natürlich harte Arbeit bedeutet: Wir haben anderthalb Jahre gecastet. Dabei war mir auch wichtig, dass die gesprochene Sprache so authentisch wie möglich ist. Melia war eine der Letzten im Auswahlprozess. Bei ihr habe ich diese Wut, dieses Dynamische gespürt, aber mir hatte noch das Verletzliche gefehlt. Das haben wir dann versucht, gemeinsam zu erarbeiten. Und als sie das dann hingekriegt hat, war für mich klar: Sie ist es. So hat dann unsere gemeinsame Reise begonnen.
Welche Herausforderungen gab es für dich im Vergleich zu der Arbeit an deinen Dokumentarfilmen?
Im Schreibprozess mit Drehbuchautorin Claudia Schaefer war es für mich sehr ungewohnt, zusammen am Tisch zu sitzen und zu überlegen. Ich hatte das Gefühl, ich muss raus, ich muss zu den jungen Frauen. Deswegen bin ich an Schulen gegangen und habe Workshops auf Grundlage des Romans gegeben und viel über Hazal geredet. Ich wollte von den jungen Frauen aus ihrer Perspektive hören, was sie über Hazal denken. Dadurch konnte ich meine eigene Position überprüfen oder auch selbstbewusster mit ihr umgehen.
Ellbogen spielt in Berlin und Istanbul. Was war dir bei der Darstellung dieser Orte wichtig?
Mir war es wichtig, Deutschland und die Türkei, oder Berlin und Istanbul, nicht gegeneinander auszuspielen. Deswegen habe ich mich bewusst dafür entschieden, auf totale Einstellungen der Städte zu verzichten. Es geht mir nicht um das Kulturelle, mir geht es um eine systemische Frage. Um die Frage, was Menschen machen, die in Europa an den Rand gedrängt werden, darum, wie wir mit marginalisierten Menschen umgehen. Zu diesen Fragen gibt es natürlich in Deutschland und der Türkei spezifische Punkte. Filmisch ging es mir aber darum, die Städte ineinander fließen zu lassen.
Marginalisierung und Diskriminierung findet im Film auch immer wieder in Bezug auf Klassenzugehörigkeit statt: Warum wolltest du diesen Aspekt des Romans zentral machen?
Für mich war das Thema Chancengleichheit und Klasse elementar. Wie kann eine junge Frau in einer Gesellschaft, die so stark leistungsorientiert ist und in der die finanzielle Situation der Eltern so massiven Einfluss darauf hat, ob du erfolgreich bist, die gläserne Decke durchbrechen? Mir war es unheimlich wichtig, hier wirklich die Gesellschaft an den Pranger zu stellen – also alle kleinen Nadelstiche, die sie von außen erfährt, in den Fokus zu bringen.
Ellbogen war Eröffnungsfilm auf dem FrauenFilmFest Dortmund & Köln und hat dort den Debüt-Filmpreis gewonnen. Ist Ellbogen ein feministischer Film?
Junge Frauen, die sich wehren – viele haben daraus etwas Feministisches abgeleitet. Ich sehe, dass das ein Teil des Films ist. Denn paradoxerweise öffnen sich durch ihre Gewalttat für Hazal Tür und Tor zu einer neuen Welt – dort geben wir ihr erstmals die Möglichkeit, sie selbst zu sein. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, einen Film über Reue und Buße zu erzählen. Wir wollten erzählen, wer diese junge Frau sein könnte. Und ich glaube, das war sehr stark für viele Frauen, die gesehen haben, wie Hazal auf ihren vermeintlichen Platz verwiesen wird. Aber ich glaube, andere junge Frauen wiederum sehen etwas anderes darin.
Text: Marlene Resch
Fotos: Marie Konrad