İrem Aydın nimmt uns in ihrer Kolumne “Waving Cities” in die Sphären zwischen Istanbul und Berlin. Für mehrere Monate wird sie euch Einblicke in ihr Leben geben und erzählen: Vom Kofferpacken, von der Migration als Teil der “New Wave” nach Berlin, von den Herausforderungen des Theaterschaffens in einem fremden Land, von Identitäsfragen, Queer-Sein und vielem mehr. Ihre erste Geschichte bringt euch, wie sollte es anders sein, an den Istanbuler Flughafen – und die U8.
“Es ist eine Nacht, in der ich nicht sonderlich gut schlafe. Was aber vermutlich normal ist, im Hinblick auf Alles, was mich am nächsten Tag erwarten wird. In der Nacht, die in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein voranschreitet, versuche ich bei jeder mir möglichen Gelegenheit, meine mit mir im Bett liegende Katze zu umarmen. Kurz vor jedem Einschlafen überkommt mich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird und ich schrecke immer wieder auf. Am Morgen, so gegen 7 Uhr, öffnet meine Schwester die Tür und verabschiedet sich von mir. In meinem schlaftrunkenen Zustand, kommt mir nur ein “Bis später” über die Lippen, so als ob wir uns am Abend wieder sehen würden. Zwei Stunden später warte ich dann darauf, dass mein Wecker endlich klingelt, obwohl ich eigentlich hellwach bin. Meine Mutter hat mir schon Tee eingeschenkt und eins von dem mit Käse überbackenen Broten vorbereitet, die ich so gerne mag. Wir essen schnell und erreichen viel zu früh den Flughafen. Der ist ungewohnt leer und ruhig. Als wäre das Land durch das Verlassenwerden erstarrt, als wäre niemand mehr geblieben, der noch gehen könnte. Am Gate sind nur wenige Wartende und trotz meiner zuvorigen Sorgen bleibt mein Koffer unterhalb der erlaubten Gewichtsgrenze. Alles läuft ungewohnt glatt und daher bleibt uns vor meinem Abflug noch ziemlich viel Zeit. “Komm, lass uns noch einen Tee trinken”; sagt meine Mutter, als ihr klar wird, dass sie auf dem weiteren Weg, nicht mit mir kommen kann. Ich will gar nicht wissen, wie viel sie für die beiden abgestandenen Tees zahlt und damit jedes Flughafen Klischee erfüllt. Anschließend sitzen wir uns gegenüber, unwissend, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen werden.”
Mit diesen von Melancholie kaum zu überbietenden Zeilen beginnt mein Tagebuch am 5. Dezember 2018. Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen und während ich versuche diese Zeilen zu schreiben, stecke ich schon wieder in einem Umzugsstress fest und versuche, die vom ganzen Schleppen wieder aufgekommenen Rückenschmerzen zu ignorieren. Ich muss gestehen, dass ich nicht sonderlich konsequent bin im Tagebuchschreiben. Sicherlich kann man den schnelllebigen Berliner Alltag dafür verantwortlich machen, aber vermutlich liegt der Grund eher in meiner nicht ausblendbaren Faulheit. Die Aufgabe des Erinnerns erfüllt mein Instagram Story Archiv sowieso mehr als ausreichend. Und in einer Zeit, in der kaum jemand mehr Geduld aufbringt, als für das Lesen eines Tweets notwendig ist und Printmedien zunehmend verschwinden, bin ich mir bewusst, wie überflüssig alles ist, was ich bisher geschrieben habe und noch schreiben werde. Ehrlich gesagt, kann ich auch nicht glauben, dass meine Analysen, Kommentare oder Zukunftsprognosen so herausragend sind, dass sie eine Veröffentlichung wert sind. Wenn ihr trotzdem weiter lest, nehmt das Geschriebene daher bitte nicht allzu wichtig.
Kommen wir nun zurück zur Geschichte. Wie schon erwähnt, befinde ich mich aktuell erneut im Umzugsstress, da mein alter Mietvertrag im letzten Monat gekündigt worden ist. Als türkeistämmige, selbstständige Künstlerin lebe ich in dem Bewusstsein, niemals die nötigen Auflagen für einen unbefristeten, eigenen Mietvertrag zusammen zu bekommen und habe mich daher dem Dauer-Wander-Zustand hingegeben, den ich mit so vielen anderen Berliner*innen teile. So kam es dazu, dass ich in der letzten Woche in das eine Zimmer, dass ich vorübergehend in der Boddinstraße bewohne meine nötigste Kleidung getragen habe, während ich die restlichen Sachen, in mein noch von jemand Anderem bewohnten, aber von mir ab dem nächsten Monat gemieteten Zimmer in der Leinestraße abgestellt habe. Gleichzeitig musste ich mein altes Zimmer in der Hermannstraße räumen und renovieren, sodass ich vor lauter Pendeln mit der U8 angefangen habe, mich in dieser heimisch zu fühlen. So verging meine Woche mit körperlicher Arbeit am Tag und abendlichen Theaterbesuchen, die ich aufgrund von beruflichen Verpflichtungen und menschlichen Bedürfnissen, nicht absagen konnte und wollte. Dabei verrenkte ich mich wie gewohnt in meinem Sitz, aus Angst wegen meiner überdurchschnittlichen Größe und meinen voluminösen Haaren, denen hinter mir die Sicht zu rauben und verwandelte mich allabendlich von einer Neukölln-Nomadin zu einer Aristokratischen-Theater Kennerin.
An einem Samstagabend war ich dann endlich auf dem Weg zu meiner zukünftigen Wohnung in der Leinestraße, wo ich meine Vermieterin kennenlernen sollte. Vorher hatte ich mir kleine Gin-Dosen gekauft, in der Hoffnung, dass diese mir die nötige Energie geben würden, um im Anschluss mit Freund*innen aus Istanbul zur Closing-Party der Grießmühle zu gehen. Es nieselte auf dem Weg und als ich die Haustür erreichte, verfolgte mich das Klacken von hohen Absätzen in den Hausflur hinein. Ich drehte mich um und schaute in die Augen von einer unfassbar charismatisch aussehenden, queeren Person, mittleren Alters. Sie grüßte mich sehr höflich und ging an mir vorbei zum Hinterhaus. Ich blieb im Erdgeschoss und wollte grade bei meiner Vermieterin klingeln, als ich jemanden mich auf Deutsch ansprechen hörte.
Als ich mich umdrehte, schaute die Person von gerade mich lächelnd an. Ich entschuldigte mich und gab zu, nur Englisch zu verstehen. Sie fragte, welche Sprachen ich noch kenne und als sie erfuhr, dass ich aus der Türkei bin, erzählte sie, dass sie schon ewig nach Istanbul gehen wolle, aber aus lauter Sorgen, sich noch nie getraut hätte. Ich fragte nach ihren Namen, Marlene, sagte sie, von Marlene Dietrich komme ihr Name und ihr Geburtsname sei Tobias. Ich drehte uns beiden eine Zigarette und sie bot mir von ihrem Bier an. Da fielen mir die Gin-Dosen in meiner Tasche ein und ich öffnete eine für uns beide. Marlene liebte auch Gin und so fanden wir uns rauchend und Gin trinkend im Hausflur wieder. Sie erzählte von ihrem Leben in Neukölln, schon 13 Jahre lebe sie hier, so viele Veränderungen habe sie gesehen. Früher hätte sie Sorgen gehabt, überhaupt auf die Straße zu gehen. Warum ich hierher gezogen sei, wollte sie wissen, Istanbul soll doch so schön sein. Das konnte ich nur bestätigen, aber ich sagte, wie sehr ich Berlin liebe. Sie nickte wissend und begann einen imaginären Feind in die Luft zu treten. Wenn ich könnte, sagte sie, würde ich alle Politiker*innen aus der Welt treten. Wir lachten zusammen. In dem Moment öffnete sich die Tür meiner Wohnung und wir blickten in das neugierige Gesicht meiner zukünftigen Mitbewohnerin.
Marlene und ich verabschiedeten uns und sie erzählte dabei, dass sie Zeki Müren und Bülent Ersoy leidenschaftlich liebe. Wir verabredeten uns auf einen Abend mit Gin und Arabesk Musik und umarmten uns. Als ich meine zukünftige Wohnung betrat, war ich erfüllt vom Moment. Ich wurde getragen von dem Gefühl, Teil eines Fassbinder Films zu sein, war noch überrascht in einem Hausflur in Neukölln auf Marlene getroffen zu sein und beflügelt von der Aussicht auf einen gemeinsamen Abend mit Zeki Müren und Gin. So entschied ich mich gegen die Party mit meinen Freunden und machte mich auf den Weg zurück in mein vorübergehendes Zimmer. Zuhause angekommen, öffnete ich die letzte kleine Gin-Dose und las dabei das Gedicht Diaspora Blues von Ijeoma Umembinyuo:
so, here you are
too foreign for home
too foreign for here.
never enough for both.
Text und Foto: İrem Aydın
Übersetzung: Derya Reinalda